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Kategorie: Bücher
Annas Spuren 'Die Grauen Busse‘ sind ein Mahnmal für das Stabbrechen des Menschen über die eigene Art  Teil 3/4

Heinz Markert

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Unmittelbar einnehmend wirkt das Foto der Anna Lehnkering - mit Freundin - auf eine heutige versammelte Schulklasse, Anna erscheint als ein Teennager wie aus gegenwärtigen Tagen. Die junge Anna Lehnkering war in der Familie lange kein Thema. Ihr klinisch herbeigeführter Tod im Nationalsozialismus hat bewirkt, dass sie einem ‚Gedächtnisschwund‘ anheimfiel.

Das änderte sich, als der Vater der Autorin von ‚Annas Spuren‘ seine Tochter gebeten hatte, seine Stammbaumdaten zu digitalisieren. Diese hat dann auf eigene Faust nach weiteren genealogischen Daten geforscht. Dabei wurde der Name von Anna Lehnkering auf einer Liste von „Euthanasie“-Opfern zum reinen Zufallsfund. Autorin Sigrid Falkenstein kannte Anna bislang nur unter dem Namen Änne.

Anna („Änne“) war die Tante von Sigrid Falkenstein, geborene Lehnkering. Der Vater begann seiner Schwester wiederzubegegnen. Die Begegnung und das Kennenlernen von Anna durch Autorin Falkenstein erfolgte zunächst fast ausschließlich über Patientenakten. Das Familiengedächtnis, auch das des Vaters, war sehr bruchstückhaft. Er erinnerte sich ausnahmslos an schöne Erlebnisse in der gemeinsamen Kindheit. Die schlimmen Geschehnisse aber hatte er scheinbar verdrängt.

Archive bewahren das Leben, das Ablehnung erfuhr

Akten zu den seit nationalsozialistischer Zeit dem Sinn entschwundenen Menschen finden sich im Deutschen Bundesarchiv. Akten, die angefordert werden, werden zugänglich. In diesen finden sich Querverweise zu anderen Akten und die Arbeit an einem Puzzle beginnt. Ganz ähnlich gestaltete das sich auch beim Autor Robert Domes (‚Nebel im August‘). Aus der Recherchearbeit, die Sigrid Falkenstein aufgenommen hatte, entstand 2012 wie aus Spuren geschrieben das Buch: ‚Annas Spuren. Ein Opfer der „NS-Euthanasie“‘. Der Titel akzentuiert die Notwendigkeit eines Nachspürens.

Das Buch ist im Stil von Briefen an Anne geschrieben. So entstanden viele Einzelbriefe, die alle beginnen: „Liebe Anna, ...“. Der Psychiater Frank Schneider hat die Entstehung mit seinem fachmännisch geschulten Rat begleitet. Er kannte die Hintergründe wie aus dem ff. Die Arbeit am Werk war mühevoll. Denn das Wissen über die ‚Euthanasie‘ ist bis heute eingeschränkt geblieben, weil die Gesellschaft ihre Widerstände gegen das Thema immer wieder überwinden muss. Es kann vorkommen, dass vertraute Menschen über Todesspritzen partout nichts hören wollen und schon eine andeutende Beschreibung des Tötungsvorgangs am Familientisch verbieten.

Der Massenmord wird bürokratisch-industriell geplant

Gemäß Geheimschreiben hatte Hitler 1939 das Projekt T4, das Projekt der Vernichtung von Leben, das dem Nationalsozialismus als unwert und den ‚Volkskörper‘ überfordernd galt, zur Ausführung gebracht und per Dekret 6 Anstalten – mit Gaskammern - nach den rasse- und erbhygienischen Vorstellungen einer pseudowissenschaftlich bemäntelten ‚Eugenik‘ einrichten lassen. Diese waren: Hadamar, Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Bernburg und Pirna-Sonnenstein.

Hitlers Wahnwelt, die auf Pogrom und Massenmord abzielte – man weiß heute, dass Mord ihn in Ekstase versetzte -, war auch eine Konsequenz kriegswirtschaftlicher Berechnungen. Im Rahmen der Aktion T4 (bis August 1941) wurden in den Gaskammern der sechs Tötungsanstalten 70 000 Menschen ermordet (darunter Anna). Danach folgte die sogenannte dezentrale Euthanasie mit Verhungernlassen, Giftinjektionen und Überdosierung mit Medikamenten, Kinder-‚Euthanasie‘ eingeschlossen. Der NS-Staat wollte sich der Schwächsten entledigen. Nach derzeitigem Forschungsstand fielen der NS-‚Euthanasie‘ insgesamt etwa 300.000 Menschen zum Opfer.

Anna ist ein Beispiel für viele, mit denen entmenschlicht verfahren wurde

Anna Sigrid Falkenstein Tante 4 small1Anna (02.08.1915 – 07.03.1940) wurde „bald nach ihrer Einschulung einer Hilfsschule überstellt, die sie mit 14 Jahren verließ. Sie half anschließend im Elternhaus aus“, informiert uns die Lebensbeschreibung zu Anna. Die Einschulung war vom Tod des Vaters überschattet. Anna fiel das Lernen in der Schule schwer. Sie konnte und wollte gern helfen, hatte aber eine Lernschwäche. Behinderungen oder Einschränkungen sind nicht selten unter Menschen anzutreffen. Sie dürfen niemals ein Grund sein, Menschen aufzugeben und fallen zu lassen. Jeder Mensch hat seine Schwächen. Und jeder Mensch ist gleich viel wert, weil er ein Mensch ist. Zwar war Anna eine Hilfe, aber für das NS-Regime war sie als wirtschaftlich unbrauchbar ausgemacht, sie fiel unter das Verdikt des ‘lebensunwerten Lebens‘. Auf Antrag des Oberhausener Kreisarztes Ludwig Fleischer und per Beschluss des Erbgesundheitsgerichts Duisburg wurde Anna am 2. November 1935 zwangssterilisiert.


Foto 1: © buecher.de, Foto 2: © Sigrid Falkenstein

 
Info:

Die Teile der Serie in WELTEXPRESSO:

1. Eine Medizin, die der Menschlichkeit entsagte
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/11503-eine-medizin-die-der-menschlichkeit-entsagte
2. ‚Nebel im August‘
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/11504-nebel-im-august
3. ‚Annas Spuren‘ (Liebe Anna!...)
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/11505-annas-spuren-liebe-anna
4. Anna hatte keine Chance
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/11506-anna-hatte-keine-chance

Sigrid Falkenstein, ‚Annas Spuren‘, Ein Opfer der NS-„Euthanasie“, unter Mitarbeit von Prof. Dr. Dr. Frank Schneider, Herbig Verlag 2012 ISBN 9783-7766-2693-3, zurzeit vergriffen, Neuauflage in Vorbereitung.
Kurzfassung in einfacher Sprache erhältlich (Titelfoto) ISBN 978-3-944668-40-6
Es gibt die Vollfassung auch als eBook.


WELTEXPRESSO hatte den Film NEBEL IM AUGUST zum Anlaufen in deutschen Kinos rezensiert:

https://weltexpresso.de/administrator/index.php?option=com_content&view=article&layout=edit&id=8128

https://weltexpresso.de/administrator/index.php?option=com_content&view=article&layout=edit&id=8129