c privatsektretarKrimibestenliste September 2018, Teil 3

Elisabeth Römer

Hamburg (Weltexpresso) – Während unsereiner sich freut, daß die argentinische Schriftstellerin, die seit Jahren fulminante Romane über die gesellschaftliche Wirklichkeit Argentiniens - meist gezeigt an Schicksalen von Frauen – uns vor Augen bringt, nun seit August mit einem politischen Thriller auf der Krimibestenliste steht und uns ebenfalls freut, daß damit die Arbeit des Unionsverlages gewürdigt wird, der Schriftsteller, insbesondere Autorinnen aus Asien, Afrika und Lateinamerika veröffentlicht, währenddessen hat sich in diese Liste aus dem Nichts eine weitere Autorin aus Lateinamerika auf Platz drei geschraubt.

Es geht um Mercedes Rosende, die mit KROKODILSTRÄNEN, ebenfalls aus dem Unionsverlag (Gratulation!) und ebenfalls übersetzt von Peter Kultzen, einen Kriminalroman aus Montevideo vorlegt, den wir noch nicht gelesen haben, das aber umgehend nachholen werden, zumal wir schon dort waren, nicht nur, wie mehrfach in Buenos Aires, sondern auch länger in Uruguay. Deshalb kann man schon mal vorausschicken, daß Buenos Aires fast drei Millionen Einwohner hat, Montevideo ‚nur‘ über eine Million, aber dies bedeutet mehr als ein Drittel der Landesbevölkerung, während Argentinien rund 45 000 Einwohner hat. Aber damit genug, denn heute geht es um DER PRIVATSEKRETÄR, der je länger man liest, ein umso besserer, weil zutreffenderer Titel wird. Er heißt Román Sabaté und wird uns in einer erst einmal unübersichtlichen Situation vorgestellt.

Es ist nicht die Sache von Claudia Pineiro Lesern fertige Gerichte vorzusetzen, sie fordert unsere Kombinationsgabe durchaus heraus. Denn einige Zeit wissen wir nicht so recht, was hier los ist. Ein junger Mann, orientierungslos und doch entschlossen, dem in der Retiro-Bar des Bahnhofs dauernd Sachen einfallen, wie, daß da einer immer ‚grauenhaft‘ sagt, weil er es über seine Situation und die Umgebung auch gerade sagen möchte. Seine Gedanken werden wie ein offener innerer Monolog ausgedrückt, eine China kommt ins Gedankenspiel, aber davor ist an seinem Tisch ein todmüdes dreijähriges Kind eingeschlafen. Und dann präsentiert der Kellner die Rechnung und sagt mit dem Blick auf den Fernseher: „Die Lügen doch alle, einer wie der andere.“ Man sieht eine Großaufnahme von Fernando Rovira, keine Ahnung wer das ist und weiß, daß hier alle Politiker gemeint sind. Schon.

Aber für Román verkörpert dieser Rovira gewissermaßen sein Schicksal. Schwere Geschütze, mit denen der Leser erst einmal umgehen muß. Und dann kommt eine weitere schwergewichtige Information: die Frau dieses Fernando Rovira ist vor wenigen Monaten ermordet worden und der Politiker selbst befindet sich im Vorwahlkampf, wo er die Teilung der größten Provinz, der Provinz von Buenos Aires, vorantreibt, denn für den attraktiveren Teil will er sich anschließend als Gouverneur bewerben. Und während der Kellner noch mal verächtlich „Schwätzer“ intoniert, spricht der wachgewordene kleine Junge: „Papa“ und meint damit nicht den anwesenden Román, sondern den Politiker Rovira im Fernsehen. Dieser Joaquín wird uns das Buch über beschäftigen, aber erst mal besteigen die beiden den Fernbus und sind weg.

Wahrscheinlich ist es eine lange Fahrt, auf der das Kind schläft und den junge Mann Erinnerungen überkommen, wie es kommt, daß er bei ‚der Politik‘ gelandet war, als er sich nach Buenos Aires aufgemacht hatte, das er ja gerade mit dem Jungen verläßt. Aua, müssen wir nun, nachdem wir das Buch ausgelesen haben, sagen: man darf einfach den Plot nicht verraten, man darf an das Geheimnis nicht rühren, obwohl die Autorin gnädig ist und einem beim Lesen viele kleine versteckte Hinweise gibt, wie alles zusammenhängt. Aber die könnten ja auch inszeniert sein, um uns in die Irre zu führen. Und so bleibt der Leser wirklich das Buch über ein kleiner Detektiv, der sich die Lösung erarbeiten, erlesen muß. Und daß man am Ball bleibt, dafür sorgt die Autorin. Diese oben angefangene Fluchtgeschichte, die die Erinnerungen von Román herausfordern, wie alles anfing, finden ein Pendant im 3. Kapitel, denn jetzt erzählt Sina. Und auch hier wird das nicht in der Überschrift deutlich gemacht, sondern erschließt sich beim Lesen, wenn es beginnt: „Román Sabaté lernte ich vor ungefähr fünf Jahren kennen, kurz nachdem er nach Buenos Aires gezogen war.“

Auch ihr kommt die Ermordung von Roviras Frau und dessen Reaktion seltsam vor. Und mit ihr betritt ein interessantes Nebenthema die Bühne, was sich bis zum Schluß in Einzelkapiteln durchzieht: der Alsina-Fluch. Schräge Sache und richtig spannend, denn der Fluch drückt aus, daß nie ein Gouverneur der Provinz Buenos Aires die Wahl zum argentinischen Präsidentenamt gewann. Das wäre unwichtig, wenn nicht immer wieder seit 1882, als die Hexe Tolosana den Fluch aussprach, es die Gouverneure probiert hätten. Und es ist ja klar, daß Rovira den Gouverneursposten nur als Sprungbrett nach ganz oben anstrebt.

Daraus inszeniert Pineiro eine widersprüchliche Situation, denn natürlich muß jeder Politiker im aufgeklärten Argentinien von sich weisen, an einen Fluch zu glauben, aber gleichzeitig entwickelt der Fluch und die dokumentierte Forschung der Fernsehreporterin China im Roman eine Sogkraft, die das stattfindende Geschehen mit etwas Unheimlichen konfrontieren, einem Fluch, der aber hier gerade mit den Mitteln des Verstandes wissenschaftlich erklärt und damit widerlegt werden soll.

Höchste Zeit, auf das Eigentliche zu kommen, das als Folie für das Machtgehabe und die Korruption im heutigen Argentinien dient die politische Bewegung, die als Partei PRAGMA von Fernando Rovira aufgebaut und als mitreißender Parteichef geführt wird und die sich erst einmal für den neuen Weg ausgibt, nämlich demokratischer Teilhabe und Schluß mit den alten Zöpfen. Irgendwie kommt einem die Aufbruchstimmung unter Kennedy in den Sinn, die hier beschworen wird, aber unter argentinischen Verhältnissen ist das gelinde gesagt eine Täuschung, denn allein die Methoden, mit denen diese Partei in einer ausgefuchsten Kampagne sich als führende Kraft darstellen will, sind die Methoden von Volksverführern, von späteren Diktatoren, die gelernt haben, über gelenkte Emotionen zu regieren. Und dazu braucht man erst einmal parteieigene Schulungen, die solche Leute ausbilden, die manipulieren können. Und man braucht die Ausputzer, die für den Chef aufräumen, wenn es not tut, was Mord miteinschließt. Und man braucht Privatsekretäre, die wie Ramón sehr gut ausgesucht, will sagen zielorientiert ausgesucht werden. Denn seine Geschichte, seine Auswahl und Zurichtung ist der Gehalt des Buches.

Bei den Beschreibungen und Zuschreibungen fällt auf, daß der Unhold Fernando Rovira als rationaler und auch sympathischer Mensch dargestellt wird, während der Held der Geschichte uns als zwar feinsinniger, aber recht lascher und auch orientierungsloser junger Mann vorgestellt wird. Erst durch die Flucht, die ihn mit dem Kind zu seinem Onkel Adolfo führt, der in der Provinz ein Geschäft betreibt und politisch ein Vertreter der Radikalen ist, geradezu sozialistische Ideen hat, erst durch Flucht und dann einsetzende Verfolgung durch Fernando und seine Ausputzer, erst da wird er zu seinem klar denkenden, klar fühlenden und klar handelndem jungen Mann, der Verantwortung übernimmt.

Dieser Roman ist so vieles. Im Letzteren also auch eine Entwicklungsgeschichte, eine Parabel über das Wesen von Mitläufern, eine Aufklärung über Mechanismen öffentlicher Meinung, denn die für Ramón und Joaquín gefährliche Situation wird durch das Ausrufen einer Pressekonferenz durch China zu einer öffentlichen Angelegenheit, wo man nicht einfach entführen oder jemanden erschießen kann und wo das von uns verschwiegene Problem eine menschliche Lösung findet. Das alles ist gut beobachtet und in eine zwingende Form gebracht.

Und dann ist da noch Irene Rovira. Sie ist die Mutter von Fernando und die, bei der die Fäden zusammenliefen, die nun gekappt sind. Das ist eine Aussage, deren Interpretation weite Schlüsse zuläßt. Sind es doch die Mütter, die durch Erziehung ihrer Söhne die zukünftigen Patriarchen und Gewaltherrscher erzeugen. Nicht nur das, Irene ist noch viel schlimmer, denn sie.... Die Mütter sind also schuld?!

Genug und vom Sancho Pansa, der hier den Namen Sebastián trägt und selbstlos seinem Freund Ramón hilft, ja dient, sprechen wir erst gar nicht, denn in diesem prallvollen Roman ist Öffentliches genauso existent Privates, wie Liebe, sei es geschlechtliche oder Kindesliebe oder eben Freundschaft.

KRIMIBESTENLISTE SEPTEMBER

1(–)
Tom Franklin
Krumme Type, krumme Type
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl.
Pulp Master, 416 Seiten, 15,80 Euro

„Chabot“, Mississippi. Alle nennen ihn „Scary Larry“. Hat er wieder, wie vor 25 Jahren, ein Mädchen umgebracht? Constable Silas, einst eine schwarze Baseball-Hoffnung, zweifelt. Einen Sommer lang waren die beiden Außenseiter Freunde. Schweigen, Angst, Rassismus – gelähmte Gesellschaft, tolles Buch.

2(1)
Lisa McInerney
Glorreiche Ketzereien
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence.
Liebeskind, 448 Seiten, 24 Euro

Cork, Irland. Seniorin Maureen erschlägt einen Einbrecher mit einem Heiligen Stein. Die Leiche muss weg. Wie überhaupt alles, was den Anschein von Wohlanständigkeit stören könnte. Poetisch, direkt, kalt servierter schwarzer Humor: endlos die Spirale von gekränkter Ehre, Demütigung und Gewalt.

3(–)
Mercedes Rosende
Krokodilstränen
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen.
Unionsverlag, 224 Seiten, 18 Euro

Montevideo. Die sicherste Stadt Lateinamerikas, ins Chaos gestürzt von Rechtsanwältin Rosende. Heldin Úrsula frisst, Knasti Germán ist Paniker. Sie heult, er kotzt. Ihre Familie hat sie schon fast verschlungen, jetzt erbeutet sie souverän mit rosa Tasche Millionen. Leider gibt es auch Polizei.

4(6)
Claudia Piñeiro
Der Privatsekretär
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen.
Unionsverlag, 320 Seiten, 22 Euro

Buenos Aires, La Plata. Politiker Rovira will die Provinz Buenos Aires teilen, um dem Alsina-Fluch zu entkommen. Denn nur so kann er Präsident werden. Diesem Ziel wird alles geopfert: Frau, Freundschaft, Moral. Der Fluch Argentiniens: skrupellose Machtgier. Die frisst sogar Kinder. Ausgeklügelt böse.

5(8)
Gianrico Carofiglio
Kalter Sommer
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull.
Goldmann, 352 Seiten, 20 Euro

Bari, 1992. Während eines Bandenkriegs wird der Sohn von Mafiaboss Dreizylinder entführt und stirbt. Ein Mafioso wird Kronzeuge, die Cosa Nostra ermordet in Sizilien Borsellino und Falcone, die Polizei von Bari tappt durch Grauzonen. Zufall, Schicksal? Roman und Reflexion einiger Geschehnisse.

6(10)
Max Annas
Finsterwalde
Rowohlt, 400 Seiten, 22 Euro

Berlin, Finsterwalde. Wer nicht weiß ist, wurde vertrieben oder kaserniert, deutscher Pass hilft gar nichts. Um Kindern das Leben zu retten, flieht Ärztin Marie aus dem Lager Finsterwalde, riskiert das eigene Leben in einem Deutschland, in dem Schwarze Freiwild sind. Schöne neue Zukunft mit „Politik für Euch!“

7(–)
J. G. Ballard
Millennium People
Aus dem Englischen von Jan Bender.
Diaphanes, 352 Seiten, 20 Euro

London. David Markhams Frau wurde von einer Bombe zerrissen. Bei der Tätersuche gerät er in einen Aufstand der Mittelschicht. Sie hat den
Gesellschaftsvertrag „Verantwortung gegen gehobenen Lebensstil“ aufgekündigt. Und jagt alles Schöne/Gute in die Luft. Den Volvo und das National Film Theatre.

8(–)
D. B. Blettenberg
Falken jagen
Pendragon, 384 Seiten, 18 Euro

Thailand, Leros. Kaltes, spätes Nachspiel zum Zweiten Weltkrieg: Farang Surasak Meier soll den „Falken“ töten. Der Grieche liquidiert die Nachfahren deutscher Kriegsverbrecher, die 1943 in seinem Heimatdorf 320 Menschen umgebracht haben. Endstation der Mörderjagd: Bunkerruinen auf einer Insel in der Ägäis.

9(–)
Jo Nesbø
Macbeth
Aus dem Englischen von André Mumot.
Penguin, 624 Seiten, 24 Euro

Schottland. SWAT-Führer Macbeth und Casinochefin Lady, am Drogen-Bändel von Gangster Hecate, schalten die Polizeiführung aus. Macbeth, „Mann aus dem Volk, für das Volk“, bringt Freunde, Feinde, Kinder um. Aktuelle, atmosphärisch schlüssige Transposition des Shakespeare-Stoffs. Nesbøs bestes Buch.

10(–)
Jane Harper
Ins Dunkel
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und
Klaus Timmermann.
Rowohlt, 416 Seiten, 14,99 Euro

„Giralang Mountains“, Melbourne. Erfolgsautorin Harper ist von der Wüste („Dry“) in den kalten Regenwald gewechselt. Fünf Frauen allein in der
Wildnis, Teambuilding in einer dubiosen Wirtschaftsberatung, alte Wunden: Kann nicht gut gehen, geht nicht gut. Toxisches Aerosol: nasse Luft und Detektion.

In Klammern die Plazierung vom August oder (-) neu auf der Liste.

FORTSETZUNG FOLGT

Foto:
cover © Verlag

Info:
Seit längerem erscheint nun in der FAS, der SONNTAGSZEITUNG der FAZ an jedem ersten Sonntag im Monat die Krimibestenliste:
Die zehn besten Kriminalromane des Monats September 2018, diesmal am 2. September
An jedem ersten Sonntag des Monats geben also 19 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste ist eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung mit Deutschlandfunk Kultur.

Die Jury:
Tobias Gohlis, Sprecher der Jury | Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“
| Andreas Ammer, „Druckfrisch“, BR | Gunter Blank, „Sonntagszeitung“
| Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“ | Hanspeter Eggenberger,
„Tagesanzeiger“ | Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“ | Jutta Günther,
„Nordwestradio“ | Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Polar Noir“ | Hannes Hintermeier,
„Frankfurter Allgemeine Zeitung“ | Peter Körte, „Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung“| Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“ | Marcus Müntefering,
„Spiegel Online“, „Krimi-Welt“ | Ulrich Noller, „Deutsche Welle“,
WDR | Frank Rumpel, SWR | Margarete von Schwarzkopf, Literaturkritikerin |
Ingeborg Sperl, „Der Standard“ | Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“ |
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“

Die Krimibestenliste ist auch auf Deutschlandfunk Kultur zu hören
www.deutschlandfunkkultur.de