kpm Brandenburger Tor in den 1950er JahrenSerie: Exkurse in den literarischen Untergrund, Teil 3/3

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Der mit der Gründung der Bundesrepublik neu belebte „Muff aus 1000 Jahren“ wurde bereits vor der Wende von 1968 von kritischen Publizisten, Schriftstellern und der autonomen Volkspoesie an den Pranger gestellt.

Der den Gewerkschaften nahestehende Journalist Theo Pirker beschrieb den Weg der SPD zwischen 1945 und 1964 („Die SPD nach Hitler“, erschienen 1965) und warnte die Sozialdemokraten vor einer Anpassung an die Verhältnisse; ihre Aufgabe müsse deren Veränderung sein. Der Philosophieprofessor Nikolaus Koch (Pädagogische Hochschule Dortmund), ein engagierter Verfechter der katholischen Soziallehre, warnte vor einem „CDU-Staat“. Der Schriftsteller Wolfgang Koeppen beschrieb in seinem Roman „Das Treibhaus“ einen deutschen Bundestag (in Bonn), der vor allem um sich selbst kreiste.

Nach der vom faschistischen Interregnum erzwungenen Zwangspause meldeten sich auch die Lyriker zurück. Beispielsweise Jürgen-Peter Stössel:

„Weil du sagst,
man könne nichts
machen
machen die Mächtigen
was sie wollen.
Weil du
nichts machst,
machst du
die Mächtigen mächtig.“

Und Volker von Törne fühlte sich
Frei wie ein Vogel

„Ein Dichter bin ich, und ich schreibe
Mir die Dunkelheit vom Leibe
Damit ihr nicht, wie den von Kleist
Mich nackt in eine Grube schmeißt
Bevor aus deutscher Finsternis
Ich mir ein Stückchen Leben riss...“


Die schöne neue Welt des Konsums wurde bereits sehr früh vom Volksmund persifliert. So war für junge Männer im Westdeutschland der 50er und frühen 60er Jahre das Moped (möglichst von Kreidler oder Zündapp) ein begehrtes Beförderungsmittel und Statussymbol. Beim folgenden Spottlied orientierte man sich an einem bekanntem Volkslied:

„Auf du junger Wandersmann
Schaff dir schnell ein Moped an
Denn Mopedfahren ist gesund
Einmal um die Ecke flitzen
Und dann auf der Fresse sitzen
Dann spendiert der Weihnachtsmann
Dir nen neuen Gipsverband.“

Die Refrains populärer Schlager boten – ähnlich wie in den 20er, 30er und 40er Jahren - Gelegenheit, politische Satire und Kritik zu verpacken. Zur Melodie des River Kwai-Marsches sang der Volksmund ein ironisches Lied auf die persische Kaiserin Soraya:

„Schade, Soraya kriegt kein Kind,
Schade, dass wir nicht bei ihr sind.“

Und ihre Nachfolgerin als Ehefrau des Schahs, Fara Diba, bekam ebenfalls ihr Fett ab. Bei der Melodie des Verses orientierte man sich an Rocco Granatas erfolgreichem Schlager „Marina“:

„O Fara, o Fara, o Diba,
Was nützt dir dein Charme und dein Geld
Schenkst du ihm kein Söhnchen
Dann schmeißt er dich vom Thrönchen
O arme Fara Diba, ohjeohjeohje.“


Dass der Kalte Krieg auch auf einen heißen, mit atomaren Waffen geführten, hinauslaufen konnte, war den meisten Bürgern der Bundesrepublik klar. Allerdings verdrängten sie ihre Einsicht und bedienten sich dabei einer besonderen Form des Galgenhumors:

„Auf der schwäbsche Eisebahne
Kommt der Chruschtschow angefahre
Mit zwei Bomben unterm Arm
Das bedeutet Kriegsalarm
Alle rennen in den Keller
Adenauer noch viel schneller
Und der kleine Willy Brandt
Kommt durch ganz Berlin gerannt.“


Der äthiopische Kaiser Haile Selassie übte nach seinem Besuch in der Bundesrepublik 1954 auf die Deutschen eine besondere Faszination aus (er war das erste ausländische Staatsoberhaupt, das die Bundesrepublik besuchte). In den damals angesagten Illustrierten wie der Quick oder dem Stern waren regelmäßig Fotoreportagen über den Neguse Negest, den König der Könige, und sein Land zu finden. Und es gab diverse Spottlieder; das folgende wurde auf die Melodie des Schlagers „Fahr mich die Ferne, mein blonder Matrose“ gesungen:

„Fahr mich
Mit dem Rollschuh nach Addis Abeba
Da wäscht
sich der Negus die Füße mit Fewa
Und die Leute die staunen
Und der Negus ist platt
Was man in Deutschland
Für Waschmittel hat.“


Die in der Poesie des Volksmunds offenbar werdende Systemkritik kam bei den Kabarettisten, den Singern und Songwritern und den Schriftsteller auf andere Weise, aber nicht weniger deutlich, zum Ausdruck:

Franz Josef Degenhardt
Adieu, Kumpanen

„Ich werd' jetzt ziehn, Kumpanen, und kann mich erholen
von diesem Land, vom Rhein gespalten bis nach Polen;
dem Land, von meinem roten Sangesbruder Biermann drüben
mit einem Arsch verglichen - das wir trotzdem lieben...“

Peter Härtling:
altes spiel

„immerhin und immerher
lockt das nein zur wiederkehr
setzt den spöttern nasen auf
nimmt den fliegenleim in kauf....“

Konstantin Wecker
Sage nein!

„Wenn sie jetzt, ganz unverhohlen,
wieder Nazi-Lieder johlen,
über Juden Witze machen,
über Menschenrechte lachen,
wenn sie dann in lauten Tönen
saufend ihrer Dummheit frönen,
denn am Deutschen, hinterm Tresen,
muss nun mal die Welt genesen,
dann steh auf und misch dich ein:
Sage nein!“

Peter Rühmkorf
Hochseil

„Wir turnen in höchsten Höhen herum,
selbstredend und selbstreimend,
von einem Individuum
aus nichts als Worten träumend....“


Der Sänger und Schauspieler Walter Andreas Schwarz textete und komponierte für das „Gran Premio Eurovisione della Canzone Europea“ 1956 in Lugano einen der zwei deutschen Beiträge (den anderen sang Freddy Quinn). Das Lied erzählt von jenen Leuten, die täglich auf das große Glück warten und dabei das Leben im Hier und Jetzt vergessen:

Im Wartesaal zum großen Glück

Es gibt einen Hafen, da fährt kaum ein Schiff
Und wenn eines fährt, so in unbestimmte Fernen
Und es kommt, wenn es ankommt, von sehr weit schon her
Und einer steigt aus und der kommt übers Meer
Mit gläserner Fracht von den Sternen.
Und man baute am Kai der Vergangenheit
Einen Saal mit Blick auf das Meer
Und mit Wänden aus Träumen gegen die Wirklichkeit
Denn die liebte man nicht sehr.
Im Wartesaal zum großen Glück da warten viele, viele Leute
Die warten seit gestern auf das Glück von morgen
Und leben mit Wünschen von übermorgen
Und vergessen, es ist ja noch heute
Ach... die armen, armen Leute
Und sie blickten aufs Meer und sie sahen auch das Schiff
Gerade als es abfuhr in unbestimmte Fernen
Und sie jagten auf Träumen hinter ihm her
Und sahen ihn nicht, wie er kam übers Meer
Mit gläserner Fracht von den Sternen
Und er ging am Kai der Vergangenheit vorbei
Und die im Saal, die liess er einfach stehn
Ging grade aus in die Wirklichkeit
Und da hat man ihn lächeln sehn
Im Wartesaal zum großen Glück da warten viele, viele Leute...

Und es fuhren am Morgen die Fischer hinaus
Und es glühte der Himmel bis in unbestimmte Fernen
Und da kam er gegangen und ihre Netze waren leer
Doch da holte er für sie die Sonne aus dem Meer
Und trug sie empor zu den Sternen.

Und sie glänzte weit durch die Wirklichkeit
Und es tanzten die Boote im Licht
Nur im Saal am Kai der Vergangenheit
Da sah man die Sonne nicht.

Im Wartesaal zum großen Glück da warten viele, viele Leute...“

Foto:
Das Brandenburger Tor in Berlin in den 1950er Jahren
© ARD

Info:
Die PRO LESEN-Themenwoche „Über das Volksvermögen“ ist auch dokumentiert in der Homepage des Vereins:
https://www.bruecke-unter-dem-main.de/themenwoche/