goldschmidtSerie: Der Deutsche Buchpreis  2021, hier die Auswahl der Zwanzig, Teil  21

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – „Roman des Bruders“, heißt es im Untertitel und lange habe ich überlegt, wer nun der Bruder ist. Natürlich sind sie beide Brüder, Erich, hier mit 14 und Jürgen-Arthur mit 10 Jahren, auf jeden Fall schreibt ein Bruder über den anderen und wir entscheiden uns: Georges-Arthur schreibt über Erich. Und wenn auch der zweite Teil des nur 111 Seiten langen Textes so atemlos zu lesen gewesen wäre, so eindrucksvoll das geschildert wird, was doch mit Worten zu sagen eigentlich unmöglich ist, dann wäre keine Buchpreisjury an diesem Buch vorbeigekommen.

Dieser schmale Band war, zusammen mit dem völlig anders gearteten Roman EUROTRASH von Christian Kracht, mein Favorit.

Aber schon wieder eine Geschichte über 1933, über die Nazis, über diese Verbrechen und diese nie nachlassende Scham, daß Landsleute ihren Landsleuten so etwas angetan hatten, sie ausrotten wollen, mit Stumpf und Stil, schon wieder mit diesem Thema ein Buchpreisträger?

Und dann kam ich ins Grübeln. Ich bin ja seit Beginn, seit 2005 dabei, lese schon lange alle zwanzig Ausgewählten, bespreche sie, hatte bislang alle Preisverleihungen im Römer mitgemacht, habe darum auch Überblick: bisher gab es doch gar keine literarische Aufbereitung der Verbrechen des Dritten Reiches als Buchpreisträger! Es gibt Bücher und gute Bücher darüber, aber keinen Roman zu diesem für Deutschland existentiellem Thema als Buchpreis. Zwar wurde Emigration und NS-DDR-BRD-Geschichten erzählt, wie Eugen Ruge in IN ZEITEN DES ABNEHMENDEN LICHTS, Heimkehrdramen, also die Rückkehr durch den Faschismus Vertriebener ins immer noch ns-verseuchte Nachkriegsdeutschland wie LANDGERICHT von Ursula Krechel, auch der DDR wurden in DER TURM von Uwe Tellkamp giftige Kränze gewunden und die heutigen Immigranten haben mit zwei wunderbaren Buchpreisepen TAUBEN FLIEGEN AUF von Melinda Nadj Abonji und von Saša Stanišić HERKUNFT auch literarisch reüssiert.

Aber kein einziger Roman ist als Deutscher Buchpreis erwählt worden, der die NS-Zeit, die Flucht oder das Hierbleiben unter verschärften Bedingungen erzählte, so wie es unmittelbar DAS SIEBTE KREUZ von Anna Seghers tut, 1938 angefangen, 1939 als Erstes Kapitel und 1942 als Roman auf Englisch und Spanisch veröffentlicht, Anna Seghers, die zudem mit TRANSIT noch nachlegte. Es hätte also der Jury gut angestanden, den VERSPERRTEN WEG besser zu nutzen, zudem er in wohltuendem Deutsch geschrieben ist. Makellos. Und Hertha Müller gewidmet.

Erich Goldschmidt wird 1924 geboren. Die Welt in Reinbek ist noch in Ordnung, der Vater Oberlandesgerichtsrat in Hamburg, die Eltern überglücklich, weil, nachdem nach der ältesten Tochter kein Nachwuchs mehr gekommen war, sie mit 51 (er) und 41 (sie) Jahren auch kaum mehr welchen erwarteten. Aber dann kam Erich und stand im Mittelpunkt, bis – ich kenne übrigens genau den gleichen Fall – vier Jahre später noch ein Junge geboren wurde: Jürgen-Arthur. „Die Welt war für ihn nun umgekippt, alles war bedroht vom Zugreifen oder Dazwischenfahren dieses anderen, der da unerwartet aufgetaucht war.“ In kleinen Bemerkungen, Skizzen entfaltet Goldschmidt uns die Welt dieses Knaben: „Er hörte immer öfter den Vornamen des kleinen Bruders und immer seltener seinen eigenen.“ Man kann die ganzen Passagen für jedes Kind übernehmen, über das mit dem Eintreffen des Jüngsten die Lebenskatastrophe hereinbricht. Aber, kaum jemand schreibt darüber noch als Erwachsener. Daß es Goldschmidt tut, hat eben mit der Vertreibung aus dem Garten Eden seines älteren Bruders zu tun. Das ist mit so viel Genauigkeit wie mit Liebe geschrieben und ich stelle verblüfft fest, daß auch hier der „Roman des Bruders“ von nachgetragener Liebe handelt, wie schon so viele dieser Zwanzigerliste. Hier allerdings, erneut unter verschärften Bedingungen.

Die treten ein, als am 18. Mai 1938 das Ehepaar Goldschmidt ihre beiden Söhne Erich und Jürgen-Arthur mit dem Zug nach Italien schickt. Dort will und soll sich „ein Frauengesicht mit Haarknoten “ um sie kümmern. Der Kleine bekommt einen Anfall, beschimpft die Eltern: „Ihr habt uns verkauft“, ja er reißt sich die Haare aus, wälzte sich auf dem Kellerboden und schrie und doch: längst hatte er sich schon die Bilder des Doms mit dem schlanken Campanile angeschaut und sich an deren Schönheit erfreut. Sie werden nämlich nach Florenz geschickt. Hinreißend, wie Goldschmidt in wenigen Worten die Seelenlagen der beiden Brüder beschreibt und sich selbst dabei ziemlich auf‘s Korn nimmt. Wenn es nicht so traurig wäre, insgesamt, daß die Knaben ihre Heimat verlassen müssen und sich als bestraft empfinden – erst von später her sind sie ja froh, überlebt zu haben - , könnte man sich ständig ausschütten vor Lachen über so viele kleine Ereignisse, Bemerkungen, ja feine Sottisen. Goldschmidt vermag in wenigen Sätzen eine ganze Welt erstehen zu lassen, in der man sich als Leser bewegt und den Weg der Knaben wie durch ein Brennglas beobachten kann.

Den Weg? Ja, den Weg, denn sie müssen weg (noch nie fiel mir die gleiche Schreibweise mit so unterschiedlicher Bedeutung auf. Arme Deutschlernenden), auch in Italien herrschen im März 1939 die „Gestapo-Schergen“ und suchen nach Flüchtigen. Die Knaben sollen nach Frankreich, wo sich eine reiche Tante gemeldet hat, die sie aufnehmen will. HALT. Zwei Dinge sind noch nicht angesprochen. Das erste ist die Identifizierung mit dem Aggressor, würde man fachwissenschaftlich sagen, wo es doch nichts weiter ist, als das Dazugehören wollen eines Jungen, der sein Vaterland, seine Sprache, seine Heimat liebt. Erich nämlich ist der perfekte junge Deutsche. Er fühlt so deutsch, wie unsereins sich das gar nicht mehr vorstellen kann. Er liebt die deutschen Tugenden der Disziplin, der Gelehrigkeit, er ist ein Teil davon. All die Sprüche über ein schönes Deutschland leuchten ihm ein, er will sein Vaterland mitvoranbringen, Altes auslöschen, Neues aufbauen. Er wäre so gerne der HJ beigetreten, Wimpel getragen. Es ist eine Schande, daß gerade er das nicht darf, eine Beschädigung seiner Seele, seines Naturells, die nie wieder zu heilen sein wird. Und statt die zu schmähen, die ihm das antuen, ihre Schande zu brandmarken, macht er es zu seiner Schande. DAs tut weh. Auch dem Leser.

Das Zweite ist das Geld. Doch, später haben sie auch Geldsorgen, die beiden Brüder, aber erst einmal kommen sie in Frankreich in ein teueres Internat in den Bergen. Eine eigene Welt, wo aus der ganzen Welt Gestrandete heimisch werden. Es wird äußerlich für sie perfekt gesorgt. Und auch hier fallen einem zwei Überlegungen ein. Die meisten Flüchtlinge hatten kein Geld, die beiden Knaben sind also privilegiert. Aber, ist der nächste Gedanke, das sind Kinder, die brauchen nicht Geld, sondern diejenigen Menschen um sich, die sie liebhaben, mit ihnen sind Vertrauenspersonen. Aber immer sind die Tanten, reich hin und her, nie diejenigen, die sich liebevoll um die Kinder kümmern. Sie zahlen. Welch kalte Welt. Und ohne daß der Autor dies explizit ausdrückte, überkommt einen beim Lesen einer solchen Kindheit doppelter Jammer. Wie allein sind die zwei und nach und nach bröckelt auch das, was die beiden als Brüder einer Familie zusammenhielt.

Jürgen-Arthur, ab wann heißt er Georges-Arthur?, lenkt Erich ständig ab, denn er benimmt sich wie eine Memme, wo doch Erich längst mit perfektem Französisch den Widerstand gegen die Nazis vorantreiben will. Der ewig Kleine fordert ständig seine Aufmerksamkeit und „drängte ihn ständig ins Heimweh zurück, da er ununterbrochen heulte und sich vor Schmerzen krümmte, er stieß Seufzer aus und war ein Unglücksbündel“, das aber zu trösten Erich keine Lust hatte. Er wollte die Welt retten. Die Welt und sich vor den Nazis retten. Aus Liebe zu Deutschland, allem Deutschen, war eine Haßliebe geworden, reiner Haß wohl nie. Wir sind erst auf Seite 41 und die Erzählökonomie bewundert man auch deshalb, weil die Romane beim Deutschen Buchpreis doch sehr oft ziemlich geschwätzig sind. Nein, nein, viele Seite heißt nicht automatisch, das Buch sei zu lang, geschwätzig kann man auch auf wenigen Seiten sein. Aber so mit feinem Pinsel gezeichnet, in einer Sprache, die nicht nur die Handlung beschreibt, sondern reflektierend auch die Gefühle mitteilt, dies zu lesen, ist ein Genuß. Die Sprache. Denn der Gehalt der Geschichte bleibt - wie in der europäischen Geschichte -  von äußerer Gewalt, der die beiden Knaben zu entgehen versuchen, gekennzeichnet.

Erst hatten Italiener die französischen Alpen besetzt, dann kamen am 8. September 1943 – Erich hatte gerade das Abitur gemacht – die Deutschen als Besatzer und suchten all diejenigen, die vor ihnen in die Berge geflüchtet waren. In den Heimen von Megève waren mehr als 500 jüdische Kinder untergebracht.

Für mich ist dies eine Kunst, wie es Goldschmidt  gelingt, daß der Leser nicht in bodenloser Traurigkeit versinkt, in der ja der Autor sich damals immer befand, während Erich längst die Realität bewältigt. Aber unter welchen Schmerzen. Die beiden nehmen einen unterschiedlichen Weg. Der kleine Bruder wird in Paris landen und auf dem Weg dahin viel Glück haben. Erich dagegen mausert sich erst zum Widerstandskämpfer, dann als kein Krieg mehr ist, geht er zur Fremdenlegion. Den Krieg konnte er nie wieder ablegen. Und Jude zu sein, sein zu müssen, lernten sie auch erst in Frankreich.

Die beiden Brüder sahen sich erst 1947 wieder und dann lange nicht. In den Siebzigern. Erich ist ein Dementi der Geschichte, denn er hätte eine „stinkende, halb verkohlte Judenleiche in irgendeinem Vernichtungslager der Nazis werden sollen,...Man sah ihn dastehen und keiner wußte, daß es ihm die Sprache verschlagen hatte, denn er hatte allerhand erlebt, unter anderem die Befreiung des Konzentrationslager Struthof im Elsaß, Ende April 1945. Er lebte an sich selber vorbei und verdrängte jede in ihm auftauchende Idee.“

Verstehen Sie jetzt, was ich mit der Sprachgewalt des Georges-Arthur Goldschmidt meine, die ja eine Sprachliebe ist, Liebe zur Sprache und zärtliche sprachliche Berührungen ihrer Protagonisten.
 
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Info:
Georges-Arthur Goldschmidt. Roman des Bruders, Wallstein Verlag
ISBN 978 3 8353 5061 8