deutschlandfuk.de ahrensSerie: Der Deutsche Buchpreis  2021, hier die Auswahl der Zwanzig, Teil 25

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Eigentlich habe ich es mit den Bauern und dem Landleben, dem echten, nicht so. Tiere interessieren mich, aber vom harten Landleben höre ich nicht so gerne, so ging ich durchaus mit Vorbehalt in die Lesung von Henning Ahrens, die noch vor dem großen Trubel der Buchpreiswochen und der Verleihung schon am 2. September im Literaturhaus Frankfurt stattfand und die so angenehm ablief, daß ich mir das Buch zur Besprechung kommen ließ. Nur kam es nicht, was mich erst einmal nicht störte, ich auch nicht nachfrug, weil es mir ganz recht war, denn ich hatte genug zu lesen in dem Vorhaben, alle Romane auf der Zwanzigerliste vom August zu besprechen.

Und das ist ja tatsächlich bald geschafft. Auf der Buchmesse frug ich dann nach; so was passiert, daß ein Buch nicht weggeht oder nicht ankommt. Auf jeden Fall kam es dann letzte Woche und jetzt gibt es keine Ausflucht, denn das Gespräch im Literaturhaus soll vor der Rezension erscheinen, so wie es im zeitlichen Ablauf war, mit dem Unterschied, daß ich jetzt viel besser weiß und verstehe, von was Henning Ahrens sprach, der übrigens mit der ersten Lesung des Abends  auch mit dem Anfang seines Romans begann: AUGUST 1962 – DIE TOTENFRAU.

Henning Ahrens lebt in Frankfurt, kommt aus Niedersachsen, der Roman spielt in Peine und drumherum, eine Gegend, über die die Zeit hinweggegangen ist, MITGIFT ist völlig anders geschrieben als seine bisherigen Werke und beruht auf dem Schicksal seiner eigenen Familie, was er dichterisch verfremdet hat, wo es ihm nötig schien. MITGIFT kündigt vorrangig von einer familiären Männergesellschaft, wo die ältesten Söhne von 1750 – 1950 alle Wilhelm heißen und die Frauen der Familie alt und böse gewordene Omas sind oder verbitterte Ehefrauen sind. Und wenn man diese Männer, von denen wir den 1902 (übrigens eine berühmter Jahrgang)! geborenen Wilhelm senior näher kennen- und verabscheuen lernen und schließlich gut verstehen können, weshalb Wilhelm junior den Vater erschießen will, sich aber dann 1962 selbst erschießt. Mit 31 Jahren.

Wenn wir in Gerda die Totenfrau kennenlernen, ist das für unsereins neu, daß in dörflichen Gegenden Totenfrauen in den Häusern Verstorbener halfen, den Leichnam zu waschen, anzuziehen, für den Ablauf der Beerdigung nach Bestellung eines Sarges zu sorgen, etc. Gerda hat schon lange von allem genug, aber als Wilhelm senior mit einem Schmerz im Blick sie um den Gefallen bittet, doch noch einmal ihm mit seinem Sohn zu helfen, kann sie nicht anders, obwohl sie bis heute einen tiefen Groll im Herzen trägt, denn die beiden waren sich in Jugendtagen gut, sehr gut sogar, aber sie war eine arme Kirchenmaus und geheiratet hat er Käthe, die mit den vielen Äckern als Mitgift. Denn für solche Bauernsöhne geht es nicht um Liebe, sondern um MITGIFT. Landleute sind pragmatische Typen, äußert Ahrens.

Es war üblich, daß der älteste Sohn den Hof übernimmt und da kam Gerda als Tochter eines eingewanderten Arbeiters, schlimmer, eines Sozialdemokraten, einfach nicht in Frage. Der Autor verspricht, daß man am Schluß die ganze Tragödie, den Selbstmord, auch Gerdas Verstricktsein in die Familiengeschichte, in der jeder seine Rolle spielt und wie, wenn einer wie Wilhelm junior ausbricht, sich umbringt, alles wie ein Kartenhaus zusammenfällt.

Der Roman handelt auch von der Beziehung der Mütter zu ihren Söhnen, was an Käthe und Wilhelm junior durchgespielt wird, aber auch für die Generationen vorher galt. Die Mütter sind nicht den Söhnen verpflichtet, sondern bilden mit dem Vater eine Allianz, wenn es nottut gegen die Kinder, denn die bäuerliche Welt ist bis dato eine patriarchale Gesellschaft. Durch und durch.

Leider war keine Gelegenheit zur Diskussion. Ich hätte den Autor gar zu gerne etwas zum Erbrecht gefragt – und nach der Veranstaltung war er schon von vielen Besucherinnen umringt. Ich weiß noch, was heute als Wissen verloren gegangen ist, daß in den Fünfziger Jahren der (sehr konservative, ja reaktionäre) Deutsche Bauernverband unter dem aus Niedersachsen stammenden Präsidenten Rehwinkel zusammen mit der Bildungsgewerkschaft Erziehung und Wissenschaft die Mittelpunktschulen kreiert haben. Und später auch Förderstufen/Förderschulen. Diese erstaunliche Zusammenarbeit, für die sogar eine eigene Organisation, die Septembergesellschaft gegründet wurde, zu der dann auch noch die Großindustrie zählte, bezahlt aber hat die Gewerkschaft!, hatte folgenden Grund. Bis dato galt das germanische Erbrecht, demnach die Söhne das Land aufteilten. Dadurch waren über die Jahrhunderte viel zu kleine Parzellen entstanden, die für die moderne europäische Landwirtschaft mit dem Einsatz großer Maschinen einfach ein Auslaufmodell waren. Das Erbrecht wurde geändert, die ältesten Söhne bekamen in der Regel die Höfe. Wohin aber mit den Zweit-, Dritt-, etc. Geborenen?

Da war Bildung der einzige Ausweg, den weiteren Söhne (von Töchtern war damals weniger die Rede) den gesellschaftlichen Aufstieg durch eine fundierte Berufsausbildung, eventuell sogar Studium möglich zu machen. Es war also ein Moment in der Geschichte, wo sich die Interessen der so ungleichen Partner Bauernverband und Bildungsgewerkschaft trafen. Die im übrigen absolut erfolgreiche Geschichte der damaligen Mittelpunktschulen der Fünfziger Jahre , aus vielen wurden später ab den Siebzigern Gesamtschulen, ist heute nicht mehr im kulturellen Gedächtnis der Deutschen, was ein Fehler ist!

Im Roman spielen noch die Geschwister des Selbstmörders Grete und das Nesthäkchen Bruno eine Rolle, der in größerer Freiheit heranwächst und einen anderen Beruf ergreifen darf. Hauptsache weg vom häuslichen Bauernhof.

Wir dürfen Anna Engel nicht verschweigen, die hr-2-kultur-Journalistin leitete das Gespräch und kam auch auf die biographische Korrelation zum Leben des Autors und seinen Romanfiguren zu sprechen. Er erzählte, daß es den Selbstmord gab, allerdings fand er erst 1989 statt. Ihm paßte es besser, weil dichter gestrickt, ihn 1962 stattfinden zu lassen. Ja, es handelt sich um seinen eigenen Vater, dem er das Buch auch widmet, Heinrich Ahrens (1931-1989), der mit 58 Jahren aus dem Leben schied.

Das Buch ist durchaus eine Abrechnung mit dem Großvater, hier Wilhelm senior, einem dieser autoritären Knochen, die man seit Heinrich Manns DER UNTERTAN sofort wiedererkennt, nach oben buckelnd, nach unten tretend, sich als Herrenmensch verstehend, ehrgeizig, herrisch, Kontrollsucht und Schlagdrauf! So richtig einer für die Nazis, für das Dritte Reich und für die stehend, die im Osten Europas wüteten und durch ihre anschließende, hier polnische Gefangenschaft sich sowieso aller potentiellen Sünden gereinigt fühlten. Widerlich. Und das Schlimmste: keiner setzte sich ihnen entgegen. Eben auch die Ehefrauen nicht, die beispielsweise in bürgerlichen Häusern immer wieder die Allianz mit den Söhnen eingingen. Hier nicht.

Er brauchte durch neue Namen einen Abstand zur eigenen Familiengeschichte und brauchte zudem zwei Anläufe für dieses Buch. Erst als er die TOTENFRAU zu Papier gebracht hatte, wußte er, jetzt läuft es. Er hat alle Romanfiguren an Familienmitgliedern orientiert. Er selbst kommt nicht vor, klar, denn er ist 1964 geboren und der Roman endet 1962. Der Hof ist übrigens erloschen, er selbst hat in Kiel gelebt und 2012 wurde der gesamte Hof mit allen Ländereien verkauft. Seine Mutter lebt auch in Frankfurt.

Im Roman wollte der das GRUNDRAUSCHEN der Heimat zum Klingen bringen, die sinnlichen Eindrücke und die sich widersprechenden Gefühle zu vereinen zu versuchen. „Wir alle sind verstrickt in unsere Familiengeschichten“, war sein Schlußwort.

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Info:
Henning Ahrens, Mitgift, Klett-Cotta, August 2021
ISBN 978 3 608 98414 9