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Kategorie: Bücher
Loschutz Besichtigung eines Unglucks 72dpiSerie: Der Deutsche Buchpreis  2021, hier die Auswahl der Zwanzig, Teil 28

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – In der Nacht vom 21. auf den 22. Dezember 1939 ereignete sich im Bahnhof Genthin (Sachsen-Anhalt) eines der schwersten Eisenbahnunglücke Deutschlands.

Der Schnellzug D 10 nach Köln war pünktlich um 23:15 Uhr in Berlin (Potsdamer Bahnhof) abgefahren. Wegen des vorweihnachtlichen Verkehrsaufkommens, durch Fronturlauber noch zusätzlich verstärkt, war er völlig überfüllt. Dadurch verzögerte sich das Ein- und Aussteigen auf den nachfolgenden Bahnhöfen. Aber auch die kriegsbedingte Verdunkelung trug dazu bei, dass der Zug in Brandenburg bereits 12 Minuten Verspätung hatte. Wegen eines ihm Genthin Eisenbahnunfallvorausfahrenden langsamen Militärzugs erhöhte sich diese im Verlauf der nächsten Stunde auf 27 Minuten.

Der nachfolgende D 180 nach Neunkirchen (Saar) verließ Berlin um 23:45 Uhr. Er kam ohne Verzögerungen voran. Vor dem Bahnhof Genthin trennte die Züge nur noch ein Blockabstand, also ein Sicherheitsabstand, der nur befahren werden darf, falls ein Signal dies ausdrücklich erlaubt. Ab der Blockstelle Belicke war dieser Abschnitt einschließlich des Bahnhofs Genthin mit dem D 10 belegt, der wegen des Militärzugs nur langsam vorankam. Der Lokführer des D 180, der hätte warten müssen, übersah jedoch Vorsignal und Hauptsignal und fuhr in den für ihn gesperrten Block ein. Die Induktionsbremse der Lok, Indusi, die beim Überfahren eines Stopp-Signals automatisch eine Vollbremsung ausgelöst hätte, war wegen einer Reparatur ausgebaut worden.

Der Wärter der Blockstelle bemerkte das Eindringen des D 180 in die belegte Sicherheitszone und informierte unverzüglich den Wärter des Stellwerks Genthin-Ost. Dieser nahm eine sogenannte Winke-Lampe zur Hand und hielt diese rot leuchtende Laterne aus dem Fenster des Stellwerks. Das geschah vier Sekunden zu früh. Denn in diesem Augenblick passierte der langsame D 10 das Stellwerk. Dessen Lokführer bezog das Signal auf seinen Zug und leitete eine Notbremsung ein.
Noch trennten zwei Minuten die beiden Züge. Eine Zeitspanne, in der es dem Schrankenwärter an der Karower Straße nicht gelang, Knallkapseln an den Gleisen anzubringen, die den D 180 noch hätten warnen können. Ebenfalls gelang es dem Wärter nicht, das Einfahrsignal in den Bahnhof auf Halt zu stellen. Darum fuhr der Zug mit einer Geschwindigkeit von 100 km/h auf den im Bahnhof wartenden D 10 auf.

Einer ersten Zählung zufolge verloren 186 Menschen ihr Leben, 106 wurden verletzt. Später wurden diese Zahlen auf 278 Tote und 453 Verletzte korrigiert. Lokführer und Heizer des D 180 überlebten. Der Lokführer wurde zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Beim Prozess kam auch zur Sprache, dass er bereits 1917, 1922 und 1931 Haltesignale missachtet hatte.

An dem historischen Unglück, über das er vor rund 20 Jahren bereits ein Hörspiel verfasst hat, interessiert Gert Loschütz „die Zufälligkeit, mit der so etwas geschieht, und auch die Sinnlosigkeit“. Denn: „Das Ganze hätte nicht zu passieren brauchen, wenn bestimmte Bedingungen ein bisschen anders gewesen wären.“ Man könne sagen: „Es ist das ‚Was wäre, wenn?‘, was mich daran interessiert.“

Und mit Rückblick auf den Zweiten Weltkrieg fährt er fort: „Was sich später im Großen ereignet hat, ereignet sich hier bereits im Kleinen.“ Bei seinen Recherchen sei ihm klar geworden, dass dieser Krieg bereits zu diesem Zeitpunkt erhebliche Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse in Deutschland genommen hatte. „Ein Großteil der Lokführer war zum Kriegsdienst eingezogen worden, was zur Folge hatte, dass Lokführer, die eigentlich gar nicht geeignet waren für die Steuerung von Personenzügen, trotzdem im D-Zug-Betrieb verwendet wurden. Normalerweise hätte der Mann, der diese Lok gefahren hat, beim Güterverkehr bleiben müssen. Hinzu kommt das Verdunkelungsgebot: Die Bahnhöfe waren dunkel, die Züge waren dunkel, die Scheinwerfer an den Zügen waren abgedunkelt.“

Gert Loschütz wurde 1946 in Genthin geboren, dem Ort der Tragödie, von der er lange keine Ahnung hatte. Obendrein habe er als Zehnjähriger mit seiner Mutter die DDR verlassen und sich zwangsläufig von seiner Heimat entfremdet. Eher zufällig habe er von der Katastrophe Kenntnis bekommen. Zunächst widerstrebend, dann aber von einer großen Neugier gepackt und immer eifriger sich in die Sache vertiefend, habe er recherchiert. Auch die Gerichtsunterlagen aus dem Prozess gegen den überlebenden Lokführer sowie gegen die Bediensteten von Stellwerk und Schrankenposten habe er sich besorgt. Zusätzlich die Akten der Reichsbahn.

Die von ihm sorgfältig recherchierten Umstände fügte er zu einem Roman zusammen, dessen erster Teil eine Tatsachenerzählung ist. Seinem Ich-Erzähler gibt er den Namen Thomas Vandersee. Im zweiten Teil wandelt sich der literarisch abgefasste Bericht zu einer überwiegend fiktiven Geschichte, der er zunehmend eigene autobiografische Details unterlegt.

So wendet er sich Carla zu, einer der schwerverletzt Überlebenden. Sie stammt aus Düsseldorf, versteht sich auf das Violinspielen und ist mit einem Juden verlobt, der im rheinischen Neuss lebt. Die Nazis haben ihn bereits in eine Sammelunterkunft verbracht, sodass seine Bewegungsmöglichkeiten bereits stark eingeschränkt sind. Vor der verhängnisvollen Zugfahrt nach Westen lernt Carla in Berlin einen Italiener kennen, mit dem sie die Reise gemeinsam antritt. Doch der überlebt das Unglück nicht. Im Krankenhaus gibt sie sich als seine Ehefrau aus. Die Gründe dafür werden nicht genannt. Möglicherweise ist sie gemäß den NS-Rassegesetzen „Halbjüdin“. Durch eine Eheschließung mit einem Juden würde sie der nationalsozialistische Unrechtsstaat als „Volljüdin“ einstufen, was letztlich einem Todesurteil gleichgekommen wäre. Es ist zu vermuten, dass sich das Paar mit Hilfe des Italieners ins Ausland absetzen wollte.

Eine weitere Erzählebene eröffnet sich mit Lisa, einem jungen Mädchen, das auf den Wunsch seiner Tante in einem Modegeschäft aushilft. Sie versorgt Carla und möglicherweise auch andere Verunglückte vor der Entlassung aus dem Krankenhaus mit neuer Kleidung. Lisa ist die Mutter des Journalisten und Ich-Erzählers Thomas Vandersee. Ähnlich wie das Leben von Carla verläuft auch ihres nicht gradlinig. Auch sie verfügt über musikalisches Talent, ist jedoch unentschlossen, ob sie daraus einen Beruf machen soll. Als junge Frau lernt sie einen Violin-Virtuosen kennen und lieben, der sie unterrichtet und ihr verspricht, sie mit in die USA zu nehmen, wo er eine Karriere in Aussicht hat. Doch dazu kommt es nicht.
Sowohl Carlas Schicksal als auch das von Lisa könnte man mit dem Hinweis „zur falschen Zeit am falschen Ort“ überschreiben. Auf diese Weise lässt es sich in das Eisenbahnunglück einordnen, das von widrigen Gesamtumständen und falschen bis irrtümlichen Entscheidungen Einzelner verursacht wurde.

Gert Loschütz bricht die Akten einer Eisenbahnkatastrophe, die sich im Kontext des Zweiten Weltkriegs ereignet, nieder auf die kleinen und durchaus ebenfalls lebensgefährlichen Katastrophen der kleinen Leute. So wie das Zugunglück eine Verkettung unerwarteter Einzelereignisse war, so kann auch das normale Leben aus der Bahn geraten, wenn es hier und dort zufällig auf Wegmarken trifft, die völlig neue Entscheidungen notwendig machen, welche selten zufriedenstellend bewerkstelligt werden können.

Auf den Leser wartet ein spannendes und gleichermaßen tiefgründiges Buch, das als künstlerisch durchkomponierter und glänzend geschriebener Roman gelten kann. Gert Loschütz wurde dafür im August auf die Liste der Zwanzig zum Deutschen Buchpreis gesetzt und im September auf die Lister der letzten Sechs. Im November wurde er mit dem Wilhelm-Raabe-Preis des Jahres 2021 ausgezeichnet.

Fotos:
1:Cover
2.Historische Teilaufnahme des Unglücks
© Archiv der Deutschen Reichsbahn/Deutsche Bahn AG

Info:
Gert Loschütz
Besichtigung eines Unglücks
Roman
354 Seiten. Gebunden
Frankfurt 2021
Verlag Schöffling & Co
ISBN 978-3-89561-157-5
Ladenpreis 24,00 Euro