loschutzSerie: Der Deutsche Buchpreis  2021, hier die Auswahl der Zwanzig, Teil 27

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Wir wollten den Abend der Romanvorstellung mit der Besprechung des Buches  zusammenbinden, den Abend, an dem noch gar nicht bekannt war, daß Gert Loschütz, im August auf die Liste der Zwanzig zum Deutschen Buchpreis nominiert, sogar auch bei den letzten Sechs dabei sein wird. Er war eingeladen von seinem Verlag, Schöffling & Co und vom Kulturdezernat der Stadt Frankfurt, wo Sonja Vandenrath im Kulturamt Literatur vertritt und das Gespräch führte.

Es gibt solche und solche Literaturabende. Dieser war einer von den besonders angenehmen. Man mochte Sonja Vandenrath nicht widersprechen, als sie beim Roman von einem ‚literarischen Glücksfall‘ sprach und ‚vom großen Erzähler Loschütz', der mit ‚Besichtigung eines Unglücks‘ anknüpfe an Vorgängerromane, die deutsche Geschichte zum Inhalt hatten. Diesmal handele es sich um eine weithin unbekannte, aber besonders bedeutsame Geschichte, die kurioserweise mit einem Zeitungsartikel beginnt, aber tatsächlich das größte Eisenbahnunglück in der Geschichte Deutschlands behandele, das 1939 in Genthien/Sachsen-Anhalt mit 400 Toten und 700 Verletzten passierte.

Es lag nahe, daß Gert Loschütz sofort auf das Unglück einging, von dem er in den 90er Jahren das erste Mal hörte. Nun muß man hinzufügen, daß Gert Loschütz am 9. Oktober 1946 in genau dem Genthin geboren wurde und erst einmal aufwuchs, wo das Unglück sieben Jahre vor seiner Geburt stattfand, aber in seiner Kindheit genauso wenig eine Rolle spielte, einfach unbekannt blieb, wie in der DDR oder der BRD gleichermaßen. Das ist schon eine Merkwürdigkeit, die zu dem gesamten Verschweigen, bzw. Niedrighalten der Information um das Unglück paßte! Unbekannt war das Unglück nicht, denn Loschütz konnte ja später viele Informationen aus den Zeitungen der damaligen Zeit entnehmen. Aber er habe sich, als er davon vor ca. 25 Jahren erfuhr, gefragt, wieso dieses Riesenunglück aus dem kollektiven Gedächtnis der Deutschen, erst recht der umliegenden Gegend so verschwunden sei.

Sicher, die Oberen in der Politik hatten im Dezember 1939 kein Interesse daran, daß technische Fehler ein so schlimmes Unglück zur Folge haben könnten, aber auch nicht, daß menschliches Fehlversagen vorliegen könnte. Den Oberen war wichtig, daß die deutsche Bevölkerung Sicherheit verspüre, gerade in solch unsicheren Zeiten wie einem Krieg, wo die Emotionen nicht innerhalb der Deutschen gegeneinander, sondern gegen den Feind gerichtet sein sollten. Weil also die Aufklärungsfrage nicht weiter problematisiert werden sollte, gab es damals auch keine genauen Zahlenangaben, weder wieviel Tote und wer dazu gehörte, und auch nicht die Anzahl der schwer und leichter Verletzten. „Die umherschwirrenden Zahlen sind alle falsch. Die richtigen stehen im Buch.“

Was will er damit? Memento! Also der notwendigen Erinnerung erst einmal eine Basis geben. Aber das sei ihm nicht sofort klar gewesen, es gäbe auch nicht nur ein Motiv für die Entscheidung, diese Geschichte zu erzählen. Er war in der Zwischenzeit in Celle, in Brandenburg, in Neapel, aber immer wieder hat er an das Zugunglück gedacht. Er ist von dieser Geschichte einfach nicht losgekommen, das habe auch seine Frau gemerkt, die ihn immer wieder einmal darauf ansprach.

Angefangen habe er im Reichsbahnarchiv in Magdeburg, wo die Briefwechsel nach dem Zugunglück lagern, die insbesondere aus Schadenersatzansprüchen resultieren. Die habe er gelesen und sei auf den Namen der Frau gestoßen, die viel später von ihm zur tragenden Figur im Roman gemacht wurde. Daß sich darin die bürokratische Manie der Deutschen verberge, das waren die Gedanken im Kopf der Zuhörerin, als Loschütz dann erzählte, es habe sich um lauter Rechnungen aus einem Kaufhaus gehandelt wie: Hemdchen für Carla...“Man konnte zugucken, wie die Frau eingekleidet wurde.“ Die Lieferung erfolgte von Boten, also vom Warenhaus ins Krankenhaus, wo Carla, Verunglückte des Zuges, der von Berlin nach Frankfurt am Main fuhr, wo sie lebt, einen Verlobten hat, Richard, einen Juden aus Neuss, der aber in Frankfurt lebt, jedoch mit einem anderen Mann nach Berlin gefahren war, mit dem Italiener Guiseppe Buonomo, der beim Unglück umkam. So kommt es auch, daß diese Carla erst einmal, noch dazu aus eigenen Angaben, als Frau Buonomo geführt wird. Doch das erzählte Loschütz noch nicht, denn er las erst einmal, was wichtig ist, damit man dem Sprachfluß lauschen kann.

Die Grundkonstellation, die zum Unglück führte, ist die Abfahrt zweier Züge aus Berlin mit unterschiedlichen Abfahrtszeiten, die jedoch im 90 Kilometer entfernten Genthien, was bei beiden auf der Strecke liegt, ohne Bremsung aufeinanderprallen und zu dem entsetzlichen Schlachtfeld führen, mitten in der Nacht. Der Schnellzug D 10 fährt in Richtung Köln um 23,15 Uhr ab und der Schnellzug D 180 in Richtung Neunkirchen um 23,45 Uhr. „Zwei Tage vor Heiligabend, zwölf Grad minus, 0 Uhr 53. Die Stadt, die Dörfer in tiefem Schlag. Kein Mond, keine Sterne, der Himmel bedeckt, ein wenig Schnee. Dann der harte metallische Schlag, Eisen auf Eisen, das Kreischen der sich ineinanderbohrenden Wagen, das Knirschen der sich stauchenden Bleche, das Krachen und Splittern zerberstenden Holzes...“ 196 Menschen sterben am Unfallort, bzw. danach. Hunderte werden verletzt.

Warum sich das Buch einem Brief verdankt, kann man auf Seite 19 nachlesen, aber gerne erzählte es Gert Loschütz den Anwesenden. Ein Herr Weidenkopf schrieb ihm auf einen Beitrag in einem Reisemagazin hin, einen Brief, in dem er auf seinen Geburtsort zu sprechen kam, Genthien, und das Unglück von 1939, von dem keiner mehr spreche. Er hatte aus einer Zeitschrift DER EISENBAHNFREUND, Erfurt, acht Blätter herausgetrennt, auf denen die Aufnahmen vom Unglück zu sehen waren. Das war der Anfang, der noch weitere brauchte.

An diesem Abend erzählte Gert Loschütz noch von den großen und den kleinen Zügen seines Romans, die man in der anschließenden Besprechung verfolgen kann. Die Zuhörer dankten mit warmen Beifall, auch für Sonja Vandenrath, die wir hier unterschlagen haben, die aber durch Fragen den Abend strukturiert hatte.