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Kategorie: Bücher
deutschlandfunkkultur.dekeunIrmgard Keuns NACH MITTERNACHT, Frankfurt liest ein Buch 2. – 15. Mai 2022, Teil 2

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Déjà-vu! Irmgard Keun hatte ich schon einmal ‚entdeckt‘, zusammen mit anderen Frauen, die in den Siebziger Jahren ihr Augenmerk auf vergessene Künstlerinnen richteten, die entweder trotz Ruhm vergessen wurden oder trotz Qualität ihrer Arbeit zu ihren Zeiten überhaupt nicht anerkennt geworden waren, was wir ändern wollten. Irmgard Keun gehörte zu den ersteren!

Welch ein Leben. Da wird sie am 6. Februar 1905 in Berlin im wohlbürgerlichen Charlottenburg geboren, ihr folgt 1910 Bruder Gerd. Doch so wohlbürgerlich war es dann auch wieder nicht, denn die durch ihren Kaufmannsvater wohlhabende Familie zog öfter in der Stadt um und dann 1913 nach Köln, wo der Vater Teilhaber der Cölner Benzin-Raffinerie wurde, ein aufstrebender Geschäftszweig. Um mehr über das Großwerden des Mädchens Irmgard zu wissen, müßte man ihre Biographie lesen, von der es nur eine gibt und sich zudem mit “Irmgard Keun. Das Werk“ aus dem Göttinger Wallstein Verlag, 2017,beschäftigen, der im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung von Heinrich Detering – der im Claassenband, Grundlage für FRANKFURT LIEST EIN BUCH das Nachwort schrieb – und Beate Kennedy herausgegeben wurde und dem ein Essay von Ursula Krechel beigefügt ist. Außerdem gibt es Briefe von 1935-1945, MAN LEBT VON EINEM TAG ZUM ANDERN, hrsg. von Michaell Bienert, Quintus, Berlin 2021.

Die Frankfurter haben Glück, denn die Tage vom 5. bis 22. Mai, wenn FRANKFURT LIEST EIN BUCH, ihnen Irmgard Keuns NACH MITTERNACHT in vielen Facetten, in Lesungen, szenischen Aufführungen, Filmvorführungen, Ausstellungen, Bildvorträge und mehr nahebringt, wird auch die 1951 geborene Tochter der Schriftstellerin anwesend sein, die viele Fragen beantworten wird können, wobei natürlich auch das, was eine Tochter erfährt, gefiltertes Leben ist. Aber immerhin.

Denn für einen Literaturenthusiasten liest sich der Lebensweg der Keun phantastisch. Sie läßt sich, nachdem sie erst 1921 ein Mädchenlyzeum abgeschlossen hatte, in den modernen Dienstleistungen wie Stenografie und Schreibmaschine ausgebildet, arbeitet wirklich als Stenotypistin, entschließt sich, aber lieber Schauspielerin zu werden und besucht zwei Jahre die Schauspielschule in Köln, wird auch von Bühnen angefordert, aber gut läuft das nicht.

Stattdessen schreibt sie. Gleich mit GILGI, EINE VON UNS wird Irmgard Keun 1931 sozusagen über Nacht berühmt. Das folgende DAS KUNSTSEIDENE MÄDCHEN setzt ein Jahr später diesen Erfolg fort. Sie ist nun mit den bekannten Größen des Literaturbetriebs im Austausch, zu denen Alfred Döblin und Kurt Tucholsky gehören. Folgerichtig werden ihre Bücher 1933/34 von den Nazis beschlagnahmt und ihre Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer, eine Voraussetzung fürs Publizieren, abgelehnt. Das war 1936 und sie zieht die Konseuenz, nach erst nach Belgien und  bis 1940 nach Holland zu emigrieren. Dort sind ihre Romane DAS MÄDCHEN, MIT DEM DIE KINDER NICHT VERKEHREN DURFTEN (1936), NACH MITTERNACHT (1937), D-ZUG DRITTER KLASSE (1938), KIND AlLER LÄNDER (1938) u.a. im Querido Verlag erschienen. Insgesamt hat sie sieben Romane verfaßt.

Es ist nicht richtig, eine Schriftstellerin über die Bekanntschaften, Freundschaften, erst recht nicht über ihre Liebschaften zu definieren. Aber, was Irmgard Keun angeht, kommt man schon ins Staunen: Egon Erwin Kisch, Hermann Kesten, Stefan Zweig, Ernst Toller, Ernst Weiß und Heinrich Mann u.a. waren es in den Niederlanden, und mit Joseph Roth lebte sie von 1936 bis 38 wirklich zusammen und zog mit ihm durch Europa, durch das Europa, was nicht durch die Deutschen besetzt war. Warum sie ihn verlassen hat, weiß ich nicht, aber wenn damals ein Grund in seinem Alkoholgenuß gelegen haben sollte, so rächte sich dies Jahrzehnte später, als sie selber Alkoholikerin geworden und zeitweilig, nein, eine lange Zeit von 1966 bis 1972 in der psychiatrischen Abteilung des Landeskrankenhauses Bonn zubrachte. Entmündigt zudem.

Sie war bis zum Einmarsch der Deutschen 1940 in den Niederlanden geblieben und ging dann unter falschem Namen zurück nach Deutschland, zurück nach Köln, wo sie unentdeckt als „Charlotte Tralow“ lebte, wobei der Nachname nicht einmal erfunden war, sondern der ihres 35Jahre älteren Ehemanns war, den sie 1932 geheiratet hatte; die Ehe wurde 1937 geschieden, als sie längst das Land verlassen hatte.

Sie hatte also überlebt, das war erst einmal das Wichtigste, und sie schrieb auch weiter, aber FERDINAND, DER MANN MIT DEM FREUNDLICHEN HERZEN, 1950, wurde kein Erfolg und sie hielt sich mit vielen kleinen Arbeiten, Rundfunk etc. über Wasser. Das ist eine der tyypischen Lebenssituationen, die Menschen widerfuhren, die aus der inneren oder äußeren Emigration infolge von Nazi- Deutschland auf ein anderes Deutschland hofften, dies aber nicht fanden.

Mehr demnächst, das sollte nur eine Einführung anläßlich des heutigen Geburtstags der Autorin sein, die Frankfurt im Mai zwei intensive Wochen lang lesen wird.

Foto:
©deutschlandfunk.kultur.de

Info:
Irmgard Keun, Nach Mitternacht, Roman, Claassen 2022
ISBN
978 3 546 10034 2