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Edith Bruck schreibt die Erinnerungen einer Überlebenden – eine Liebeserklärung an das Leben

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Es ist einfach erstaunlich, wie unterschiedlich Menschen sind, wie unterschiedliche sie leben und wie unterschiedlich sie schreiben, auch wenn sie ein gemeinsames Schicksal teilen: die Vernichtungslager der Deutschen überlebt zu haben. Sonst schreibe ich immer: „der Nazis“, aber an einem solchen Tag wie dem 27. Januar, dem Tag der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee, ist es durchaus angebracht, daran zu erinnern, daß die Dritte-Reichs-Deutschen das alles mitgemacht hatten, als Täter, als Zuschauer, als Wegsehende. Und nach 1945 noch weitermachten. Doch das ist ein anderes Kapitel, genauso wie, daß es so Ewiggestrige heute erneut gibt.

 

Dieses Buch von 158 Seiten nehmen Sie in die Hand und wollen es gar nicht mehr loslassen, so von selber liest es sich. Heiter und gelassen, wo es doch um schlimme, ganz schlimme Zustände und Menschen geht, um Menschheitsverbrechen und die tiefe Erkenntnis, daß man alleine auf der Welt ist. Es ist einfach faszinierend auf die Unterschiede einzugehen, die DAS BARFÜßIGE MÄDCHEN und ICH WAR DAS MÄDCHEN VON AUSCHWITZ  von Tova Friedman trennt, wo doch die gemeinsame Ausgangslage erst einmal ins Auge sticht. Zwei Mädchen, die eine (Jahrgang 1938) aus einer jüdischen Umgebung in einer polnischen Kleinstadt, die andere ebenfalls als jüdisches Mädchen (Jahrgang 1931) in einem ungarischen Dorf barfußlaufend großgeworden. Die eine, die erst 1938 geboren, schon mit 4 Jahren nach Auschwitz kommt, die andere, die wie die meisten ungarischen Juden, erst Ostern 1944 mit 13 Jahren ebenfalls nach Auschwitz deportiert wird. Für die Autorin nicht wichtig, für uns schon: die Ungarn waren ursprünglich mit den Deutschen liiert, man ließ ihre Juden in Ruhe, doch dann im März 1944 wechselten sie die Seiten, die Deutschen besetzten daraufhin Ungarn und die Deportation und Ermordung von rund 700 000 Juden begann. Während die eine in Auschwitz bis zu ihrer Befreiung bleibt, die auch eine Selbstbefreiung war, wird die andere mehrfach durch ganz Deutschland transportiert. „Waren drei Monate oder drei Jahre vergangen? Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute starb man: Manche nach der Selektion, manche beim Appell, manche vor Hunger, manche an Krankheit und manche...durch Selbstmord.“ (52). Es geht erst nach Dachau/ Bayern und von dort nach Bergen-Belsen in die Lüneburger Heide.

Beide überleben die KZs, die eine mit Vater und Mutter, der anderen bleiben nur Geschwister, beide gehen erst einmal zurück in die alte Heimat, wo sowohl in Polen wie in Ungarn die alten Nachbarn den Zurückgekommenen mit Argwohn und aus schlechtem Gewissen geborenen Haß begegnen. Angst, daß diese ihnen die geklauten Dinge und enteigneten Häuser wieder entreißen. Beide Mädchen verlassen diese unwirtliche Heimat, die keine mehr ist, die eine geht in die USA mit langen Aufenthalten in Israel, die andere geht direkt nach Israel, wo sie nicht bleiben will und später in Italien – gerne – lebt. Das eine Buch ist aus dem Englischen übersetzt, das andere aus dem Italienischen. Und es ist faszinierend, wie unterschiedlich bei so viel Gemeinsamkeit diese beiden Frauen und ihre Leben sind.

Wir bleiben endlich bei Edith Bruck, die das verdient, denn sie hat ein durchaus ungewöhnliches Buch geschrieben. Die Analyse der Verhältnisse, die die Aufzeichnungen unserer ersten Autorin so wertvoll machen, ist ihr fremd. Stattdessen kann sie mit kurzen Strichen Menschen vorstellen, die ihren Weg kreuzten, kann über die komischsten wie auch traurige Ereignisse plaudern, hat die literarischeren Erinnerungen geschrieben – kein Wunder! Schon als Kind wollte sie Schriftstellerin werden und daß dies vor 60 Jahren auf Italienisch in Italien zum ersten Mal geschah, ist wie ein Wunder und zeigt, wie willensstark diese Frau ist, die erst mal allerhand mit sich machen läßt.

Sie flieht nach 1945 aus dem ungarischen Dorf und das Wort HEIMAT möchte sie abgeschafft sehen, weil kontaminiert, sie lebt in Budapest mehr schlecht als recht und versteht zu spät, daß der eigene Bruder sie nach Israel verkauft hatte. Dafür erhielt er nämlich eine Prämie. Israel war die Hoffnung der ermordeten Mutter, aber es wird ihre Enttäuschung. Das kann man alles gut nachvollziehen. Was uns an den Kibbuzim so romantisch und auch sozialistisch erschien, die gemeinsame Arbeit, das gemeinsame Essen, das gemeinsame Leben ist für jemanden, der immer fremdbestimmt und kaserniert gelebt hat, zu viel der Gemeinsamkeit. Edith wollte frei sein und macht erst einmal alle Dummheiten, die auf dem Weg liegen.

Ein Vorteil dieses Buches ist die Wahrhaftigkeit, mit der die Autorin lapidar über ihre Fehler spricht, da ist nichts geschönt, sondern das wirkliche Leben im Mittelpunkt. Immer die falschen Männer, erst mal immer. Eine Heirat, Scheidung, die nächste Heirat, damit sie in Israel nicht zum Militär muß, das ist nämlich für jemanden, der die Shoah überlebt hat und bei jeder Soldatenuniform schon die Krise kriegt, einfach nicht nicht zu machen. Und als das gut geht, schnell die zweite, die ausgemachte Scheidung. Und endlich tanzt sie, das kann sie nämlich und geht mit einer Tanzgruppe nach Athen. Atmet auf. Europa, wie sie es kennt und mag. Aber dann geht ihre Gruppe nach Italien. Und das ist es. Jetzt ist sie zu Hause. Erst in Neapel, dann in Rom. Total spannend, das zu lesen, wie sie in traumwandlerischer Sicherheit endlich ihr Leben in den Griff bekommt, wie es ihr paßt, wie es ihr genehm ist und schon ist auch der richtige Mann zur Stelle, von dem wir nur erfahren, daß sie mit ihm bis zu dessen Tod überaus glücklich war.

Inzwischen ist sie als Schriftstellerin und Journalistin arriviert, schreibt Drehbücher und übersetzt. Als Leserin gewinnt man zunehmend Hochachtung vor einem Leben, einer Frau, die, lange fremdbestimmt, fähig wurde, ihr eigenes Leben zu gestalten und zu genießen, ein Leben, das ihr ja genommen werden sollte. Das ist die beste Rache an den Nazis, sagt man selber. Sie selber ist voller Erbarmen allen Schuldigen gegenüber, spricht mit Gott, der keine Antwort auf die Frage nach dem WARUM? gibt und ist dankbar für ihren Lebensweg, den sie sich selbst verdankt. Man empfindet einfach Hochachtung und Mitgefühl.

Foto:
Umschlagabbildung

Info:
Edith Bruck, Das barfüßige Mädchen. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull, Aufbau Verlag 2023 
ISBN 978 3 351 03994 3