Lesung von Patrícia Melo in der Hasengasse, moderiert von ihrer Übersetzerin Barbara Mesquita, Teil 2/2

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Warum also gibt es eine Frau als Hauptfigur. Fürs Erste sei das ihre Entscheidung gewesen, betont die Autorin,  nachdem sie die Struktur des Sicherheitsapparates in Sao Paulo recherchiert habe, die hart, männlich und brutal ist. Dem habe sie als Element entgegengesetzt: weiblich, befriedend und menschlich.



Später  erweiterte und vertiefte sie ihre Überlegungen zur weiblichen Hauptfigur, die sie als Kontrast zur Struktur der Polizei, fast nur Männer,  wählte. Dort hätten die tägliche Gewalt, die Verlusterfahrung für diese Männer zu einem Schutzpanzer geführt, ausgedrückt durch Kälte oder Humor (und Alkohol, dachten wir als Krimileserin bei uns). Sie suchte eine Heldin ohne Panzer und fand sie in Azucena. Sie konnte hier beim Schreiben auch verwerten, was sie als Erfahrungsberichte von weiblicher Polizei erzählt bekommen hatte, die sich in einem machohaften Polizeiapparat unter schwierigen Bedingungen durchsetzen mußten.


Barbara Mesquita fragte genau nach: In einem Interview in der Frankfurter Rundschau vom 12. August 2016 hatte Patrícia Melo auf die Frage: „Ihre Bücher haben also alle eine explizit politische Seite“ geantwortet: „Ja, immer, immer. In diesem Sinn bin ich eine brasilianische Schriftstellerin. Ich schenke meinem Land stets Aufmerksamkeit, die Gesellschaft, in der ich lebe, ist eine wichtige Protagonistin meiner Bücher.“

Nachdem Brasilien derzeit einen weiteren Absturz von Moral und Politik erfährt, lag es nahe, nachzufragen. Sie selbst sei nicht hochpolitisch, schreibe auch nicht so. Sie versuche, über das Schreiben die Wirklichkeit, in der sie lebt, zu verstehen. Schreiben habe die Funktion, das Leben in Literatur zu überführen. Ja, derzeit sei eine besonders brisante politische Situation, die schwer zu durchschauen sei. Ihr Kollege Raduan Nassar habe bei seiner Preisverleihung die Regierenden des Landes ob ihrer Politik mit Recht angegriffen, als Kulturnation könne man sich nicht mehr begreifen. „Wir sind sprachlos, ob der Situation mit der Amtsenthebung der Präsidentin.“ Ihr komme das wie ein Staatsstreich vor, wie eine Farce, um Dilma Rousseff los zu werden. Es sei einfach eine bizarre Situation. Die Korruptheit der politischen Klasse habe die Einheit der brasilianischen Gesellschaft zerstört. Eigentlich herrsche Bürgerkrieg.

Warum ist die Gewalt in Brasilien und ganz Lateinamerika so besonders brutal, warum muß es dort bei normalem Diebstahl und Einbruch gleich Tote geben?, war eine weitere Frage. Das schloß an die anfänglichen Ausführungen zur strukturellen Gewalt an und wurde vielseitig diskutiert. Für Patrícia Melo ist das, wie schon erwähnt, die zentrale Frage, eben auch ihre Schreibmotivation. Sie glaube aber, daß die Antworten darauf eben sehr komplex seien. Es lange nicht, eine der Ursachen, nämlich die extreme soziale Ungleichheit als alleinige Ursache zu nehmen. Die Gewalt wechsele ihre Kleider.

Wie erkläre man beispielsweise Amokläufe in den USA? Den Terrorismus, Fremdenfeindlichkeit, Krieg? Ja, der Machismo, besser, der Männerwahn, sei auch einer der Ursachen struktureller Gewalt, weil Herrschende in derartigen Gesellschaften sich in Zeiten von Gleichberechtigung noch stärker von ihren Privilegien verabschieden müßten. Und die mangelnde Bildung im Lande sei auch eine Ursache des Problems. Es gäbe gewissermaßen Hierarchien der Gewalt, die pathologische Gewalt miteinschließe. Auch sei Brasilien eine Sklavenhaltergesellschaft gewesen, deren Folgen man noch heute spüre.

Was kann es bei einer Lesung Besseres geben, als daß das Buch Anlaß ist, sich gemeinsam über die Zeit, die jeweilige Gesellschaft, die ihr zugrundeliegenden Probleme zu unterhalten. Dadurch kommt auch größeres Interesse auf, den Roman, dessen Protagonisten Fábbio Cássio, Cayanne, Olga, Azucena Gobbi, Damaso, Giulia, Ana, Jandira,  Doktor Alceu… wir nach und nach kennenlernen, zu Ende zu lesen, weshalb der Bücherstand der portugiesischen Buchhandlung TFM – Centro do Livro e do Disco de Língua Portuguesa nach der Lesung belagert war.

Ein starker Auftritt von Patrícia Melo und ein anregender, schöner Abend.

 

Foto: Patrícia Melo (c) klett-cotta.de

Info:
Patrícia Melo, Trügerisches Licht. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Barbara Mesquita,
Tropen Buchverlag, Köln 2016