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Kategorie: Film & Fernsehen

Serie: Die heute anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 28. Februar 2013, Teil 1

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – „Es war klar...nur einer von uns beiden würde überleben...Und das war ich, letztendlich...Und er nicht.“ Das sagt im Film wie im Leben Natascha Kampusch, die hier als Zehnjährige von Amelia Pidgeon verkörpert wird und als Achtzehnjährige von Antonia Campell-Hughes, die beide zeigen, wie ein kleines Mädchen unter schlimmer Behandlung ihres Entführers, abgesperrt von der Welt, sich auch deshalb selbst befreien kann, weil ihr menschenklug die erfolgreiche Mischung zwischen Anpassung und Widerstand gelingt.

 

Glauben Sie denen nicht, die sonst die Horrorfilme und blutrünstigen Thriller goutieren und sich jetzt von dem Naturalismus eines echten Falles abgestoßen zeigen. Da ist viel Verlogenheit im Spiel, aus welchen Gründen auch immer. Der Film 3096 TAGE zeigt die Entführung und die Kerkerhaft sowie physische und psychische Mißhandlung des Mädchens Natascha und ihre unglaubliche Kraft, trotz ständiger Rückschläge und Niederlagen nicht aufzugeben. Dabei konzentriert sich der Film auf das wechselseitige Verhältnis, das sich zwischen der erst Zehnjährigen und später jungem Mädchen und ihrem Entführer entwickelt.

 

Wir sehen, wie der arbeitslose Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil mit der Schaufel die Erde aushebt und wir sehen, wie er – vor jeglicher Entführung - hinter einem Schrank und noch einem Schrank ein Verlies aushebt, in dem später auf nicht einmal sechs Quadratmetern Natascha Kampusch über acht Jahre vegetieren muß, in der Gewißheit, daß sie so sicher versteckt, von niemandem gefunden werden kann. Sie muß sich also auch um den Entführer sorgen, denn was ist mit ihr, wenn ihm etwas passiert?

 

Wie die Zehnjährige, die auf dem Weg zur Schule gekidnappt wird, sich erst einmal in ihre Kerkerhaft einlebt, ist eine schauspielerische Leistung der kleinen Engländerin Amalia Pidgeon. Engländerin? Ja, dieser Film ist aus gutem Grund ein internationaler geworden. Denn der Regisseurin Sherry Hormann war es nicht möglich, in den deutschsprachigen Ländern die Besetzung der Rollen zufriedenstellend zu erreichen.

 

„Im Falle von Priklopil gab es viele Schauspieler, die diese Rolle ablehnten, ohne überhaupt das Drehbuch zu kennen. Über so etwas wundere ich mich und frage: 'Wenn ihr kein Problem damit habt, Nazis, Serienmörder oder Päderasten zu spielen, warum könnt ihr dann nicht jemanden wie Wolfgang Priklopil spielen? Mit Thure Lindhardt haben wir einen Schauspieler gefunden, der Priklopil zutiefst verachtet, sich aber emphatisch in diese Figur reinfühlen kann.“, erläuterte die Regisseurin. Das nämlich ist die Aufgabe von Schauspielern.

 

Schon dieser Vorgang zeigt, daß auch bei der Verfilmung sich die Merkwürdigkeiten fortsetzten, die im Fall Natascha Kampusch fast von Anfang an auftraten. Thure Lindhardt ist Däne, die beiden Nataschas Engländerinnen, gedreht wurde auf Englisch.Warum sie darauf verfiel, begründet Sherry Hormann: „Nachdem wir im deutschsprachigen Raum auf viele Vorurteile, Befürchtungen und Ängste zu dem Stoff gestoßen waren, erlaubten wir uns über die sprachlichen Grenzen hinaus zu denken.“ Und sie spricht auch darüber, wie die unbeschwerte Außenansicht einen für sie befreienden Blickt auf die einzigartige Kraft dieser Geschichte erzeugen.

 

Und diese Kraft ist tatsächlich im Film immer wieder zu spüren. Ist die kleine Natascha noch das Kind, das seine kindlichen Bedürfnisse – Hunger, Durst, Heimweh, der nächtliche Gutenachtkuß u.a. - ganz direkt dem Täter mitteilt und von ihm mal bittend, mal schmollend, mal wütend einfordert, so ändert sich das Verhältnis, wenn wir im Sprung von rund vier Jahren eine erschreckend magere, beherrschte, sich einerseits untertänig verhaltene, andererseits unerschrocken Widerstand leistende Natascha (Antonia Campell-Hughes) erleben.

 

Nur eines bleibt gleich: die Zelle unter der Erde, die für über acht Jahre das Zuhause der Eingesperrten wird. Diese Szenen sind wirklich filmisch unerhört gelungen, denn wir haben dieselben klaustrophobischen Gefühle, wenn das Kind, das junge Mädchen durch die schmale Öffnung vom Tageslicht ins Dunkle gestoßen wird/freiwillig hinuntersteigt. Und wenn es dann im Dunkeln, im Halbdunkeln und manchmal bei einer Glühbirne spielt, ißt, schläft, Radio hört, lernt und auf Toilettenpapier kontinuierlich aufschreibt, wie viele Schläge, Fußtritte und sonstige Verletzungen sie durch diesen Wolfgang erlitt. Immer wieder. Tag für Tag.

 

In diesen Aufnahmen zeigt sich die Meisterschaft des Kameramanns Michael Ballhaus, dem ehemaligen Faßbindermann, der in Hollywood mit vielen Filmgrößen drehte, eigentlich aufgehört hatte, aber auf Anfrage von Sherry Hormann mitmachte, weil oder obwohl – das kann man sich aussuchen – sie seine Frau ist. Gefragt, wie er in der Enge zurechtkam, weil man sich Drehen immer mit viel Platz vorstellt, sagte er: „Wir haben mit der Kamera diesen Raum nie verlassen. Gelegentlich haben wir eine Wand entfernt, aber auch dann stand die Kamera immer nur an der Grenze des Raums und nie außerhalb. Darauf lege ich große Wert. Sonst verliert der Zuschauer das Gefühl für die Enge im Verlies.“

 

Aber auch die Aufnahmetechnik entspricht völlig der gradlinigen und völlig unsentimentalen filmischen Erzählung. Es gibt sehr lange Einstellungen, die uns direkt ins Geschehen ziehen, die Kamera bleibt unbewegt, sie macht keine Mätzchen, zeigt keine verwackelte Wirklichkeit, sondern bleibt neutral in der Abbildung. Das Wort neutral ist ein wichtiges in diesem Film, der uns eine furchtbare Geschichte erzählt, uns nie aber mit unlauteren Mitteln zu Gefühlsreaktionen zwingen will. Das ist in der Tat ein durchgehender und gewollter Zug im ganzen Film, nur zu erzählen und die Wertung dem Zuschauer zu überlassen.

 

Dies tritt vielleicht am stärksten am Schluß auf. Als nämlich die Achtzehnjährige beim Saugen des Busses im Hof die Situation nutzt, daß der Täter sich zum Telefonieren ins Innere abwendet, das Tor aber offen steht. Sie schlupft hindurch und rennt und rennt...und landet bei einer mißtrauischen Frau, die dennoch die Polizei ruft, die erst einmal von dem Mädchen verlangt, sich auszuweisen. Da möchte man wahnsinnig werden, denn genauso ist es. Aber auch die Polizei ist lernfähig und fährt sie aufs Kommissariat. Die Selbstbefreiung ist nach 3096 Tagen geglückt. Und damit ist der Film aus.

 

Das Entscheidende im Film ist das Umgehen des Täters mit seiner Gefangenen und umgekehrt. Thure Lindhardt spielt einen schwachen Mann, der sich stark gibt und seine eigenen Schwächen mit Schlägen und Quälereien an seinem Opfer abreagiert. Und wir sehen, wie er das Mädchen sich zur Köchin, Putzfrau, Steinklopferin, Anstreicherin und allem macht, was er braucht, einschließlich sexueller Dienstleistung, die so ärmlich ist, wie einem dieser Zwangscharakter immer wieder als armes Schwein erscheint, in seiner bieder spießbürgerlichen, gleichwohl gemeingefährlichen Art.

 

Wir sehen entwaffnet zu, wie diese zerbrechliche unterernährte Person, der Antonia Campell-Hughes nicht nur den Körper, sondern auch ihre Seele leiht, sich mit ihrem Gewalttäter arrangieren muß und es kann. Wir sehen, wie sie sich mit ihm eine Zugehörigkeit schafft, von ihm zur 'Belohnung' aus dem Keller in sein Bett verfrachtet wird, mit der Fessel an seine Handgebunden. Wir sehen, wie sie Angst hat, diese immer wieder überwindet und ihm sogar Angst machen kann. Denn der Täter kann ihrer Unterwerfung niemals ganz sicher sein. So wird im Film aus dem verängstigten, aber harmlos agierenden Kind, eine junge strategisch denkende junge Frau, die sich taktisch verhalten kann.

 

Seltsam, obwohl es um grausliche Sachen geht, kommt man gestärkt aus diesem Film im Dunkeln wieder ans Tageslicht. Das ist eine Leistung aller. Man sollte sich den Film anschauen.