Bildschirmfoto 2019 04 19 um 01.18.01Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 18. April 2019, Teil 11

Redaktion

Paris (Weltexpresso) – „Beim Schreiben gingen wir mehr und mehr in die Natur.“, so Kugelberg. „Julian entdeckte, dass du bei diesen Spaziergängen die Dinge anders wahrnimmst. Vincent verbrachte viel Zeit im Wald, ging lange Strecken – das Verständnis dieser Erfahrung und der damit verbundenen Anstrengungen wollten wir mit dem Zuschauer teilen. Je weiter du gehst, desto näher kommst du an deine Grenze, bis du mehr siehst als ur- sprünglich erhofft. Und vielleicht nimmst du dann das Gleiche wahr wie van Gogh.”

Auch das Thema ‘Ewigkeit’ spielte laut Kugelberg für Schnabels Überlegungen zu van Gogh eine wichtige Rolle. „Wir alle sind gewisser- maßen unheilbar krank.“, so Schnabel. „Die Malerei setzt sich auf ihre Weise mit dem Tod auseinander. Sie hat Bezug zum Leben, ist aber zugleich vom Leben abgegrenzt. Deshalb vermittelt sie dir Zugang zu diesem anderen Ort. Die Kunst kann den Tod überwinden. Im Film ist Vincents Publikum noch nicht geboren, aber das stoppt ihn nicht, das zu tun, was er unbedingt tun muss. Wenn du ihn draußen auf dem Feld siehst, während er sich Dreck aufs Gesicht streut, ist er kein armer Mensch. Er ist jemand, der sich zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Platz fühlt und mit seinem Leben völlig in Einklang ist.”

Produzent Jon Kilik, der mit Schnabel seit dessem Regiedebüt BASQUIAT zusammenarbeitet, beschreibt die Entstehung von dessen Filmen als organischen Prozess: „Es gibt eine Dialogzeile, die besagt, dass Vincent das, was er malt, nicht erfindet. Er meint vielmehr ‘Ich finde es bereits in der Natur. Ich muss es nur befreien.’ Dieser Prozess findet sich sowohl bei Julians Malerarbei- ten als auch in seinen Filmen. Er versucht nicht einfach die Geschichten von Malern, Autoren, Dichtern und Musikern einzufangen, vielmehr filtert er sie durch seinen einzigartigen Blickwinkel. Dieser Film ist letztlich ein Porträt jedes Menschen, der jemals etwas schaffen wollte.”

Schnabel ist bekanntermaßen sowohl bildender Künstler wie Filmschaffender. „Ein guter Maler wie Julian, der zugleich ein exzellenter Regisseur ist, sucht nicht einfach nach Realität, was normal wäre, sondern auch nach dem, was jenseits der Wirklichkeit liegt.”, so Carrière. „Sein Auge ist schärfer als unseres. In der uns umgebenden Realität kann er Dinge erkennen, die wir nicht sehen, weil sie jetzt noch nicht so deutlich sind und uns erst morgen vertraut sein werden. Er kann Verbindungen zwischen Kunstwerken se- hen, die die Kunsthistoriker und auch wir nicht wahrnehmen. Wenn wir sein Museum betreten, müssen wir uns darauf einlassen.“

„Nachdem Julians Status als Künstler in den 1970ern und noch mehr in den 1980ern unangefochten war, wurde er 1990 zum Filmemacher.”, so Carrière weiter. „Er wollte nicht nur seine Bilder in Gang bringen, sondern sich mit Bewegung als solcher auseinandersetzen. Kino – kine – ist eben Bewegung.“

Schnabel gab sein Regiedebüt mit BASQUIAT, dem ersten kommerziellen Spielfilm eines Malers über einen anderen Maler, der das kurze, kometenhafte Leben des Brooklyner Künstlers nachzeichnete. Darauf folgten BEVOR ES NACHT WIRD (2000), in dem Javier Bardem den verfolgten kubanischen Dichter Reinaldo Arenas porträtierte, und SCHMETTERLING UND TAUCHERGLOCKE (2007), der Trip in das Innenleben eines am Locked-In-Syn- drom leidenden Journalisten, der seine Gefüh- le und Wahrnehmungen nur mit seinem linken Auge kommunizieren kann.

In VAN GOGH - AN DER SCHWELLE ZUR EWIGKEIT scheint sich Schnabel mit seinem Sujet stärker zu identifizieren denn je: „Die Tatsache, dass ich ein Maler bin, verändert wahrscheinlich meine Herangehensweise.“, meint er selbst. „Dieses Thema könnte für mich nicht persönlicher sein. Darüber habe ich mein ganzes Leben lang nachgedacht.”

So persönlich Schnabels Vision auch war, bei der Entstehung des Films wurde daraus für sämtliche Beteiligten ein allumfassendes Erleb- nis. „Ich kann nicht oft genug betonen, wie sehr dieser Film eine Gemeinschaftsleistung war.

Jeder Einzelne brachte seine Sensibilität, seine Fähigkeiten und sein Verständnis des mensch- lichen Daseins ein. Von den Schauspielern über die Crew bis zu den Musikern – jeder ließ sich direkt von seinen Gefühlen zu van Gogh leiten. Und genau das war es, was wir am meisten woll- ten: authentische Emotionen.”

Für Willem Dafoe, der tief in den emotionalen Kern van Goghs vordrang, hatte dieser Prozess fast etwas alchemistisches an sich. „Man könn- te einerseits sagen, dass Willem diese Rolle spielte, aber gleichermaßen könnte man auch behaupten, dass er eine Seele verkörpert.“, so Schnabel. „Indem Willem die Geschichte eines Künstlers in ihren ganzen Dimensionen er- zählte, lotete er selbst die Möglichkeiten seiner eigenen Kunst aus.”

Dafoe fand großen Gefallen daran, das Publi- kum in die Gedankenwelt van Goghs zu entfüh- ren. Als Vorbereitung absolvierte er bei Schna- bel einen privaten Malkurs.

Für Oscar Isaac, den Darsteller Paul Gauguins, der in van Goghs späterem Leben eine zentra- le Rolle spielt, bezieht der Film seine Kraft aus seiner Subjektivität, die jedem einzelnen Zu- schauer eine einzigartige Erfahrung beschert: „Mir ist noch nie zuvor ein solcher Film unter- gekommen. Julian lässt einen nachempfinden, was van Gogh zeitlebens durchgemacht hat, so dass das in dein Unterbewusstsein einsickert. Es fühlt sich wirklich so an, als würde man während dieser kreativen Explosionen und persönlichen Implosionen in Vincents Haut stecken.”

Wenngleich es zahlreiche Filme, TV-Sonder- sendungen, Dokumentationen und Serien zu van Gogh gibt, fand Schnabel in keiner davon seine Erfahrung als Maler reflektiert. Für ihn war es entscheidend, dass sich der Film um die eigentlichen Abläufe des Malens, also das Auftragen der Farbe auf die Leinwand, dreht. „Für mich musste das Malen authentisch her- überkommen. Außerdem musste der Film den Gedankenprozessen von Malern, ihren Bezie- hungen zu Kollegen und ihren Vorgängern ge- recht werden.”

Zwangsläufig kam in der Geschichte auch ein weiterer unsterblicher Künstler vor: Paul Gau-guin, der eine Zeitlang Mitbewohner von Van Gogh in Arles war. Über ihre stürmische Be- ziehung wurde viel geschrieben – ebenso über ihre Auswirkung auf van Goghs offensichtliche Wahnanfälle – aber Schnabel, Carrière und Kugelberg interessierten sich viel mehr für die künstlerische Beziehung der beiden und ließen sich Dialoge über Technik und Philosophie ein- fallen, wie sie noch nie zuvor zu hören waren.

„Für uns war es besonders interessant, dass van Gogh nach Modellen malte, während sich Gau- guin an seiner Erinnerung oder Fantasie orien- tierte. Das waren zwei verschiedene Sichtweisen und wir stellten uns vor, wie beide über diese Unterschiede wohl gesprochen haben konn- ten.“, so Carrière.

Wie das Skript waren auch die Dreharbeiten ein Entdeckungsprozess. „Es gibt einen Grund, weshalb die Arbeit mit Julian so Spaß macht.“, so Kilik: „Seine Herangehensweise ist: Versu- chen wir es einfach und fangen wir mittendrin an. Hier geht es nicht um extreme Vorbereitun- gen, sondern darum, genügend über das Sujet zu wissen. Und bei der Besetzung, der Motiv- suche, Dreh und Schnitt lässt er dann zu, dass sich die Dinge organisch entwickeln – Über-

raschungen inklusive. Bei Julian dreht sich viel darum, seinen Instinkten zu vertrauen. Er will das Ganze lebendig und frisch halten und für alles, was sich vor ihm abspielt, offen sein. So kann er damit arbeiten und auf diese Weise wo- möglich eine neue Wahrheit entdecken.”

Wie bereits erwähnt, wird Vincent van Gogh von dem dreifach Oscar®-nominierten Willem Da- foe porträtiert, der für seine Vielseitigkeit und künstlerische Experimentierfreude bekannt ist. Zuletzt war er unter anderem in THE FLO- RIDA PROJECT als Manager eines herunter- gekommenen Hotels zu sehen. Die Bandbreite seiner Rollen reicht vom Green Goblin in den SPIDER-MAN-Filmen bis zu Jesus Christus in Scorseses DIE LETZTE VERSUCHUNG CHRISTI.

„Ich konnte mir nur ihn in dieser Rolle vor- stellen.”, so Schnabel. „Und als er sich dann so richtig in die Figur hineinvertiefte, ging er dank seines physischen Stehvermögens und seiner Vorstellungskraft weit über den blanken Text des Drehbuchs hinaus.”

Dafoe fühlte die Verlockung dieser Rolle lange bevor Schnabel ihn deshalb kontaktierte: „Ich kenne Julian seit langem. Er ist ein alter Freund, und als ich hörte, dass er einen van Gogh-Film drehen würde, wollte ich die Rolle.“, erinnert sich Dafoe. „Als wir uns dann unterhielten, sag- te er mir, ich solle Steven Naifehs und Gregory White Smiths Buch ‚Van Gogh – The Life‘ lesen. Was ich dann auch tat. Ich machte mir zu allen Aspekten, an denen ich interessiert war, No- tizen – markierte bestimmte Zitate und kleine Details. Ich schickte sie an Julian, und so be- gann ich, in den ganzen Prozess einzusteigen. Von da an ging es so weiter.”

Die Lektüre bot Dafoe einige Überraschungen und feuerte sein Interesse noch weiter an: „Die meisten Leute denken, dass sie viel über van Gogh wissen. Aber das stimmt so nicht. Je mehr ich über ihn gelesen habe, desto inspirierender fand ich ihn. Ich war insbesondere von allem angetan, was er in seinen Briefen mitteilte.”

Bald begann eine noch ganz besondere kreative Reise, denn Schnabel wollte, dass Dafoe im Film tatsächlich malte – also nicht einfach nur die Be- wegungen eines Malers nachahmte, sondern sich physisch, emotional und instinktiv in die Arbeit mit der Leinwand einbrachte, um auf diese Wei- se eine ganz neue Art von Film zu schaffen.

„Dieser Film handelt genauso sehr vom Ma- len wie von der Person van Goghs. Ein großer Teil des Arbeitsprozesses bestand für mich dar- in, das Malen zu lernen – und noch viel mehr: das Sehen.“, erklärt Dafoe. „Wir begannen ganz einfach – indem ich die Materialien studierte und lernte, wie ich einen Pinsel halte. Im Lauf der Zeit bat mich dann Julian, selbst zu malen. Ich kann nicht von mir behaupten, dass ich in dieser kurzen Zeit zum Maler wurde, aber das, was mir Julian beibrachte, hat mich auf andere Weise innerlich geöffnet.”

„In praktischer Hinsicht hat mich das tiefer in Vincents Realität verankert.“, so Dafoe weiter. „Denn ich erfuhr, wie man bei der Arbeit sei- ne Wahrnehmung verändert. Ich habe Dinge, die ich fälschlicherweise früher über Kunst zu wissen glaubte, viel tiefgreifender verstanden. Ich lernte, wie man eine Leinwand berührt, wie man Farben einsetzt, wie man Strategien entwi- ckelt und sich dann davon löst. Aber vor allem lernte ich, dass die Malerei eine Kombination aus Inspiration, Technik und Ausbildung ist, die man dann am Schluss wieder aufgibt. Was ich an diesem Film besonders mag, ist, dass er einen Teil dieses Prozesses dokumentiert, was man sonst kaum zu sehen bekommt.”

Foto:
© Verleih

Info:
Besetzung
WILLEM DAFOE (Vincent van Gogh)
RUPERT FRIEND (Theo van Gogh)
MADS MIKKELSEN (Priester)
MATHIEU AMALRIC (Doktor Paul Gachet)
EMMANUELLE SEIGNER (Md Ginoux)
AMIRA CASAR (Johanna van Gogh)
ANNE CONSIGNY (Lehrerin
OSCAR ISAAC (Paul Gauguin))