f derunschuSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 5. Dezember 2019, Teil 2

Claus Wecker

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Es gibt Filme, die sind so ungewöhnlich, dass sie den Zuschauer und vor allem auch den Filmkritiker erst einmal ratlos zurücklassen. Filme, die so weit vom Gewohnten abweichen, dass sie den Kritiker zum Schreiben geradezu zwingen. Er (oder sie) muss sich in einem Text Klarheit verschaffen. Früher wurden beispielsweise über die Filme von Peter Greenaway ganze Bücher geschrieben und (wenigstens teilweise) auch gelesen. Heute ist Simon Jaquernets Film »Der Unschuldige« so ein Fall.

Zwei Welten stehen sich in diesem Film gegenüber. Die eine, fast schon vergangen geglaubte, ist eine fundamental christliche Welt. In sie hat sich die etwa 50-jährige Ruth (Judith Hofmann) nach einem tragischen Ereignis in ihrem Leben geflüchtet. Mit Hanspeter (Christian Kaiser), der in einer Freikirche engagiert ist, hat sie zwei jugendliche Töchter aufgezogen. Wie es früher in Deutschland und der Schweiz, wo der Film spielt, die Regel war, betet man vor dem gemeinsamen Essen, und regelmäßig nehmen alle am Gottesdienst in der Gemeinde teil.

Demgegenüber steht die moderne Welt, in der Ruth arbeitet. In einem Tierversuchsinstitut assistiert sie bei einem bahnbrechenden Versuch: Einem Rhesusaffen wird der Kopf eines anderen Artgenossen verpasst. Das neu erschaffene Tier überlebt zunächst, wenn auch mit Schläuchen an Geräte angeschlossen. Das wird in einem medizinischen Vortrag als Sieg der Forschung dargestellt. Man sei auf dem Weg zur Unsterblichkeit, heißt es. Christen, die an ein Weiterleben der Seele nach dem Tod glauben und diesen entsprechend ernst nehmen, müssen dies als gotteslästerlich ansehen.

Wie aber ist das bei Ruth? Wie ist diese Wissenschaftlerin in eine streng christliche Gemeinschaft geraten, in der sie sich nicht wohl zu fühlen scheint? Wie kommt es, das sie sich bei einer Andacht übergeben muss?

Mehr als zwanzig Jahre liegt das Geschehen zurück, das sie in ihre aktuelle Lage gebracht hat. Andreas, ihr damaliger Lebensgefährte, wurde angeklagt, seine Tante aus Habgier ermordet zu haben. Obwohl er seine Unschuld beteuerte, wurde er zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Und obwohl Ruth sich für ihn einsetzte, brach er den Kontakt zu ihr ab. Damals schien eine glückliche Beziehung für immer beendet.

Doch ein Mann an einer Pommesbude, von hinten kaum richtig zu erkennen, setzt in ihr einen Prozess der Verunsicherung in Gang. Ist Andreas wieder da, zurück in ihrem Leben? Sie engagiert einen Detektiv, der ihr mitteilt, dass der Ex bei einer Indienreise tödlich verunglückt ist. Doch er taucht in Ruths Wohnzimmer auf und will mit ihr fliehen.

Simon Jaquemet lässt offen, ob es sich bei Andreas um eine reale Figur oder um ein Phantom handelt. Für letzteres spricht, dass er immer im entscheidenden Moment auftaucht und verschwindet. Thomas Schüpbach, sein Darsteller, ist ein schauspielerischer Laie, der selbst neun Jahre im Gefängnis verbracht hat (nach Schweizer Presseberichten). Sein zurückhaltendes Spiel passt genau zu deren schemenhafter Existenz.

Sexualität schafft neue Probleme, wenn sie zwischen Ruth und Andreas wieder auflebt und von Ruths Tochter ausprobiert wird. Die kameradschaftliche Mutter versucht ihre Tochter zu decken, um den Skandal zu verhindern, und gerät dadurch in weitere Depressionen. Die Gemeinde versucht ihrerseits mit allen Mitteln, Ruth zu läutern. Bizarr wirkt eine Teufelsaustreibung, besonders verwirrend eine Swingerclubszene. Doch Ruth sieht sich schließlich zur Selbsthilfe gezwungen, indem sie eine Parallele zu ihrem Leid und dem des Rhesusaffen zieht.

Nach dem viel gerühmten Debüt »Chrieg« ist »Der Unschuldige« ein mutiger Zweitling. Zusammenfassend kann man sagen, dass Jaquemet eine befremdliche Versuchsanordnung gewählt hat, um das Porträt einer Frau in einer bedrohlichen Lebenskrise zu zeichnen. Und die Skizze ihrer Umgebung, die hoffnungslos überfordert ist. Die Familienkrise, zu der sich die Situation auswächst, ist weniger abstrakt, als es den Anschein hat. Das ist spannend erzählt, und der Autor gibt nicht vor, dass er die Welt mit einfachen Mitteln erklären kann.

Foto:
© Verleih

Info:
DER UNSCHULDIGE
von Simon Jaquemet, CH/D 2018, 114 Min.
Drama / Start: 05.12.2019

Darsteller
Judith Hofmann - Ruth
Naomi Scheiber - Naomi
Christian Kaiser - Hanspeter
Thomas Schüpbach - Andreas
Anna Tenta - Meike
Urs-Peter Wolters - Paul

Regie: Simon Jaquemet
Buch: Simon Jaquemet