UNENDLICHKEIT Pressefoto 02 1Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 17. September 2020, Teil 6

Redaktion

Stockholm (Weltexpresso) - Einige Themen in ÜBER DIE UNENDLICHKEIT kennt man aus Ihren vorherigen Filmen: Optimismus, aber auch Krieg und Verzweiflung, die Abwesenheit von Gott. Würden Sie sagen, es gibt immer eine Balance zwischen Hoffnung und Verzweiflung?

Das Hauptthema ist die Verletzlichkeit des Menschen. Ich denke, es ist ein hoffnungsvoller Akt, wenn man etwas schafft, das Verletzlichkeit zeigt. Denn wenn man sich der Verletzlichkeit des Menschen bewusst bist, wird man respektvoller und geht sorgfältiger mit dem um, was man hat.

Ich möchte die Schönheit des Lebens betonen. Um das zu zeigen, muss man natürlich einen Gegensatz schaffen. Man muss die schlechten und grausamen Seiten des Lebens zeigen.

Betrachtet man zum Beispiel die Kunstgeschichte, sind viele Bilder von einer gewissen Tragik gezeichnet. Aber selbst wenn sie grausame und traurige Szenen des Lebens zeigen, haben die Künstler in gewisser Weise eine Energie übertragen und damit auch Hoffnung erzeugt.


Für jeden Ihrer Filme haben Sie sich von bildender Kunst inspirieren lassen. Woher kommt die Inspiration für ÜBER DIE UNENDLICHKEIT?

Ich interessiere mich für die Künstler der Neuen Sachlichkeit wegen der Strenge ihrer Bilder. Meiner Meinung nach sind sie außergewöhnlich deutlich und detailliert: Alles ist im Fokus, alles ist sehr klar und deutlich. Diese Tiefenschärfe findet man kaum im Film: Der Hintergrund ist immer außerhalb des Fokus. Deswegen finde ich diese Bilder sehr inspirierend für meine Szenen: Alles ist im Fokus, sogar die grotesken Momente im Leben. Ich bin oft sehr eifersüchtig auf die Bilder in der Kunst, weil ich das Gefühl habe, dass Filme nicht dieselbe Qualität erreichen können wie die Kunst. Ich möchte wirklich Filme machen, die so ergiebig sein können wie Bilder.


Gibt es ein bestimmtes Bild, dass Sie zu Ihrem Film inspiriert hat?

Mir gefällt sehr „Das Bildnis der Journalistin Sylvia von Harden“ von Otto Dix.


Die Neue Sachlichkeit existierte in den 1920er Jahren kurz vor der Apokalypse des 2. Weltkriegs. Würden Sie sagen, dass ÜBER DIE UNENDLICHKEIT auch vor einer Apokalypse an den Start geht?

Ich hoffe nicht. Es wäre sehr pessimistisch zu glauben, dass wir in so einem Moment leben. Ich denke nicht, dass Otto Dix an eine heraufkommende Apokalypse geglaubt hat. Aber er warnte uns vor der Möglichkeit. Jedes seiner Bilder kann als Warnung verstanden werden. Das gilt auch für die alten Meister, die unser Leben darstellten, uns aber auch vor dessen Kürze warnten: „Lasst uns daran erinnern, dass das Leben nicht unendlich ist. Und ihr müsst dankbar für die Zeit sein, die euch bleibt.“


Sie erwähnen auch die Architektur als eine Ihrer Inspirationsquellen. Der schwedische Funktionalismus der 1950er Jahre ist ein ästhetisches Element Ihrer Filme. Wo sehen Sie die Verbindung zwischen Funktionalismus und Ihrem Film ÜBER DIE UNENDLICHKEIT?

Ich hatte den Ehrgeiz, das Leben mit all seinen Aspekten zu zeigen. Das schließt Funktionalismus und Modernismus mit ein. Es geht um eine Mi- schung der vielfältigen Möglichkeiten, warum man wie Häuser baut und wel- che Gesellschaften man gründet. Ich wollte keinen einfachen Stil entwickeln. Vielmehr wollte ich unsere Zeit zeigen.


Sie haben gesagt, dass die Präsenz einer Erzählerin im Film durch Schehe- razade aus „Tausendundeine Nacht“ inspiriert war. Haben Sie deshalb eine Frau als Geschichtenerzählerin ausgewählt?

Ja, das war die Entscheidung. Ich war unschlüssig. Zuerst habe ich es mit einem Mann versucht, und sogar mit mir selbst, aber schließlich fand ich es interessanter, eine Frau zu nehmen. Sie ist eine Fee, sehr clever, vielleicht so- gar unsterblich. Das ist das erste Mal, dass ich eine Erzählerstimme im Film verwende. Das ist ist neu für mich. Ich war von der Stimme in HIROSHIMA, MON AMOUR beeinflusst. In bestimmten Szenen beschreibt die Hauptfigur, was der Zuschauer auf der Leinwand zur selben Zeit sieht. Das mochte ich sehr.


Ihre Filme beinhalten immer historische Szenen. Warum sind die so wichtig für Sie?

Ich habe mich schon immer für Geschichte interessiert. Das war mein Hauptfach an der Universität: Ich habe die Geschichte der Literatur, der Philosophie und der Nordischen Sprachen studiert. Mich haben besonders die beiden Weltkriege interessiert. Zum Beispiel war ich von den Fotos der Schauplätze im Ersten Weltkrieg fasziniert, die ich als Teenager gesehen hatte.


Im Film zeigen die Kriegsszenen die Verlierer. Warum?

Ja, Gewinner sind nicht so interessant. In gewissem Sinne sind wir alle Verlierer. Es ist wichtig einzusehen, dass keiner von uns am Ende der Gewinner ist. Ich bin kein Pessimist, aber es ist eine Tatsache, dass es keine Hoffnung gibt. Das Leben ist eine Tragödie. Ich bin nicht die erste Person, die das sagt.


Ging es um Hochmut, der unter anderem von König Karl XII. oder Adolf Hitler in Ihren Filmen dargestellt wird?

Ja, in manchen Lebensabschnitten, besonders wenn du jung bist, machst du Erfahrungen mit Überheblichkeit. Du denkst, du bist unverwundbar, unbesiegbar. Das ist sehr charakteristisch für junge und starke Menschen. Ich habe das auch selbst erlebt, als ich ungefähr 25 Jahre alt war und den Film EINE SCHWEDISCHE LIEBESGESCHICHTE gedreht habe. Das war meine Hochmut-Phase, als ich dachte, ich könnte immer der Gewinner sein, und würde nie verlieren, wenn ich immer kämpfe und hart genug arbeite.


Was verkörpert für Sie die Jugend?

Sie ist die meiste Zeit sehr schön. Ich betrachte gerne Kinder, weil sie nur so vor Ideen sprühen, voller Hoffnung sind und vor Vitalität strotzen. Das ist schön anzusehen. Solange du jung bist, behältst du die Hoffnung, aber dann verlierst du sie Schritt für Schritt, wenn du älter wirst.

Zum Beispiel mag ich sehr gern die Szene, in der Vater und Tochter im Regen auf ihrem Weg zu einer Geburtstagsparty sind. Der Vater opfert seinen Regenschirm – ein Akt der Selbstlosigkeit – während die Tochter nur die Schuhe zugebunden haben möchte. Das ist so schön anzusehen. Auch in der Szene mit den tanzenden Mädchen, denke ich, ist es wunderschön, die Vitalität dieser jungen Menschen zu sehen, die so glücklich sind, einfach weil sie existieren. Sie lieben es zu tanzen, und deshalb tun sie es. Ihre Energie hat etwas sehr Ansteckendes.


Sie haben einen sehr besonderen Humor. Was finden Sie lustig?

Ich denke, die Wahrheit ist oft sehr lustig. Als ich meine Karriere begann, war ich von Miloš Forman, Jiří Menzel und anderen tschechischen Filmemachern inspiriert. Sie haben uns das Leben in einem sehr humorvollen Tonfall erzählt. Sie zeigten oft Menschen, die ein bisschen verloren waren. Keine Loser, aber ein bisschen verloren. Ich mag solche Filme mit dieser Art von Humor sehr: kleine, aber sehr lustige Geschichten. Viele Filmemacher versuchen den Alltagshumor einzufangen, aber man kann leicht dabei scheitern. Ich scheitere auch oft, aber ich gebe nicht auf.


Haben Sie alles in Ihrem Studio gedreht?

Ja, abgesehen von einer Außenaufnahme. Das ist die Szene, in der die deutsche Armee marschiert. Die haben wir in Norwegen gedreht.


Was waren aus einer technischen Perspektive betrachtet die herausforderndsten Szenen des Films?

Das war die Szene mit dem fliegenden Paar. Neben dem Bau des Modells von Köln brauchten wir auch für das Setting sehr lange. Der Maßstab ist vielleicht 1:200. Der Kölner Dom zum Beispiel ist einen halben Meter hoch. Die ganze Stadt ist ein riesiges Set. Wir haben einen Monat dafür gebraucht.


Was bedeutet Ihnen diese Szene?

Es ist eine schreckliche Erinnerung an die Geschichte: Eine schöne Stadt wurde bombardiert und zerstört. Abgesehen davon wollte ich auch zeigen, dass das Leben weitergeht. Liebe, Zärtlichkeit, Sinnlichkeit bleiben. Es war wichtig, diese beiden Seiten des Lebens über einer zerstörten Stadt zu zeigen.


Obwohl Sie diese historischen Szenen haben, gibt es in Ihren Filmen eine Zeitlosigkeit, und hier im Film ist sie sogar im Titel verankert.

Ja, ich wollte diese Szenen, die mit Zeitlosigkeit spielen, obwohl zu sehen ist, dass es September ist oder dass es schneit oder eine historische Szene einem das Gefühl von Zeitlosigkeit gibt. Wie gesagt, ich bin von Bildern inspiriert, also von Kunstwerken, die uns heute ebenso ansprechen wie andere Menschen vor 200 Jahren oder noch früher. Es suggeriert, dass wir Menschen uns über die Jahrhunderte sehr ähnlich sind. Die „Unendlichkeit“ des Titels hat aber nichts mit der Unendlichkeit des Weltraums zu tun. Es ist also nicht der wissenschaftliche Begriff, sondern vielmehr die Unendlichkeit von Zeichen der Existenz, des Menschseins gemeint.

Foto:
© Verleih

Info:
BESETZUNG
Pfarrer          Martin Serner
Erzählerin    Jessica Lothander
Fliegendes Paar             Tatjana Delaunay und Anders Hellström
Mann an der Treppe      Jan Eje Ferling
Psychiater                      Bent Bergius
Zahnarzt                        Thore Flygel

STAB
Regie        Roy Andersson
Drehbuch  Roy Andersson
Kamera     Gergely Pálos

Veröffentlichung aus dem Presseheft