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Kategorie: Film & Fernsehen
platzeinSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 18. November 2021, Teil 15

Romana Reich

Berlin (Weltexpresso) – Das Unglaublich an der Geschichte ist vor allem, daß sie in der Schweiz spielt, noch dazu teils mitten auf dem Land. So eine Geschichte erwartet man vielleicht in Berlin oder sonstigen Großstadtmilieus. Und nur, weil ein Mädchen, das im Drogenmilieu aufgewachsen ist, das zu Papier gebracht hat, wissen wir davon. Nein, wir wissen erst durch den Film davon, aber das Buch war in der doch so ordentlichen und aufgeräumten Schweiz ein Sensationserfolg. Wenigstens das.

Ausgangspunkt war die Schließung der Drogenszene in Zürich. Daß seit Jahrzehnten Zürich der Schmuddelplatz der Nation war, war bekannt. Zürich wurde also ‚sauber‘ gemacht, aber die Leute mußten ja irgendwohin, wenn man sie nicht gegen ihren Willen in Entzugsanstalten steckte. Also wurden sie vereinzelt, das heißt in Gruppen auf‘s Land verpflanzt. Und die wußten überhaupt nicht, wie man mit Drogenabhängigen umgeht, wollte sie ja auch gar nicht haben, weil überall Angst herrschte, daß diese seltsamen Typen Einfluß auf die örtliche Jugend habe.

Die Autorin des Buches, das Grundlage des Films ist, hat als Kind das alles selber erlebt und darin liegt die eigentliche Kraft dieses Films, festzustellen, wie klug, wie umsichtig, wie stellvertretend Kinder agieren können, wenn sie die Eltern ihrer eigenen Eltern sein müssen. Sie war elf Jahre, diese Mia, als sie auf‘s Dorf kam. Alles ist anders und mit ihrem Blick folgen wir ihr den Film hindurch und begleiten sie in die Schule, wenn sie nachmittags mit der Dorfclique unterwegs ist, aber auch, wenn sie wieder einmal ihre Mutter zugedröhnt erlebt und nicht genau weiß, wie sie ihr helfen kann. Doch, daß die Drogen ihr Feind sind, weiß sie schon und sie weiß auch, daß ihre Mutter sterben wird, wenn das so weiter geht. In solchen Kindern steckt eine Kraft, die auch daher rührt, daß sie sich für die Mutter verantwortlich fühlt und je stärker diese ihre Erwachsenenrolle als Süchtige abgibt, um so stärker nimmt Mia eine Verantwortung wahr, die eigentlich Erwachsene tragen und nicht Kinder. Diesen Kindern wird ihre Kindheit gestohlen, sie sind die kleinen Erwachsenen, die von der Gesellschaft alleine gelassen wurden.

Und das Hauptproblem ist, daß solche Kinder ihre Verantwortung, hier für die Mutter, so verinnerlichen, daß dies zu einer Abhängigkeit führt, sie also in ihrer Rolle der Verantwortlichen so hineinwachsen, daß eine ungesunde Umkehrung der Verhältnisse eintritt: die Mutter ist das Kind, spielt die Rolle des Kindes und das Kind muß die Rolle der Mutter übernehmen. Und bleibt doch Kind mit den Sehnsüchten nach einer geschützte Kindheit.

Der große Unterschied zu herkömmlichen Drogenfilmen liegt in der Tatsache begründet, daß sonst die Drogenfälle zu Wort kommen, hier aber es das Kind ist, um das es geht. Und dieses Kind macht sich mit etwas stärker als sie ist, sie erschafft sich Buddy, ihr Freund, den sie aus der Musikleidenschaft ihres Vaters kennt, denn der Schmerz, mit dem sie auch leben muß, ist die Abwesenheit des Vaters. Dieser Buddy ist Mias alter ego, ist immer dabei und wir können ihn mit Mia sehen, aber für alle anderen ist er unsichtbar. Ein toller Trick, den Filme herstellen können. Das gibt dem Film eine doppelte Ebene, es herrscht ein Dualismus, der sich durch den ganzen Film, durch das Leben der Mia und durch die ganze Schweiz zieht: ein so reiches Land und so arme, sich selbst überlassene Leute. Die verwahrloste Wohnung, die verwahrloste Mutter, am Rande des Abgrunds und die Sehnsüchte nach Sauberkeit und Ordnung in Mia, die in Buddy seinen Ausdruck findet. Und dieser Dualismus zeichnet ja auch die diese glanzvolle Stadt Zürich aus, die reichste Stadt mit den ärmsten Leuten.

Auch wenn die Drogenprobleme nicht mehr so virulent erscheinen, sind sie doch nach wie vor da. Das kann ein Film nicht beseitigen. Aber er kann den Blick auf ein Milieu richten, wo kleine Kinder sich ihre Sicherheit im Leben selbst erfinden müssen. Wie tröstlich bei allem, daß es solche Kinder wie Mia gibt. Ein Wunder eigentlich, das man als Beispiel weitergeben sollte.

Foto:
©

Info:
Darsteller
MIA LUNA MWEZI
SANDRINE SARAH SPALE
LOLA ANOUK PETRI
BUDDY DELIO MALÄR
ANDRE JERRY HOFFMANN

Stab
REGIE PIERRE MONNARD 

Buch: Erschienen im Wörterseh Verlag: https://www.woerterseh.ch/produkt/platzspitzbaby/