filmSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 10. November 2022, Teil 6

Redaktion

Paris( Weltexpresso) - ...über das Buch von Antoine Leiris und seine Auswirkung, islamistischen Terror, Hass, Wut und Angst, öffentliche Vereinnahmung sowie das Schreiben an sich.

Der islamistische Terror ist zu einem der beherrschenden Themen in Europa geworden. Viele Menschen starren auf ihn in Wut und Angst. Dabei fokussiert sich die Öffentlichkeit reflexartig auf die Täter – fast so, als wolle man das Schicksal der Opfer und ihrer Angehörigen verdrängen oder tabuisieren. Ich habe den Terror durch „Meinen Hass bekommt ihr nicht“ neu begriffen als zutiefst antifamiliäre Macht. Denn das Buch schildert die seismographischen Ausschläge des gewaltigen Erdbebens im familiären Mikrokosmos. Das ist in seiner Subtilität um Vieles erschütternder und berührender als die stereotypisierte mediale Berichterstattung.

Dieses Projekt steht in einer großen Verantwortung. Es beschäftigt sich mit den Auswirkungen eines Anschlags, der nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa tiefes Entsetzen hinterlassen hat.

Dies ist die Geschichte eines Mannes, der durch die Ermordung seiner Frau schwer getroffen wird und an seiner Verzweiflung und Hassgefühlen zu zerbrechen droht. Um zu überleben, muss er sich ganz auf die Liebe zu seinem Kind einlassen. Ein sehr intimes, seelisches Drama, das zwischen Leben und Tod, Himmel und Schattenwelten oszilliert.

Filme sind für mich emotionale, im besten Falle körperliche Erfahrungen. Was wir hier erfahren? Vielleicht, dass unsere Liebe zueinander schlussendlich doch stärker ist als der Hass in unserer Welt. Auch wenn die Kräfte des Hasses furchtbare Wunden schlagen können. „Mein Sohn und ich, wir sind stärker als alle Armeen der Welt“, schreibt Antoine in seinem Post. Das ist unsere Hoffnung. So fragil wie lebendig.


PRÄDIKAT „BESONDERS WERTVOLL“ – DAS JURY-URTEIL DER FBW

Die tief bewegende wahre Geschichte einer Trauer, die durch einen Post weltweit Beachtung fand – ein sensibel gespielter und klug inszenierter Film, der zeigt, dass Liebe, die bleibt, keinen Raum für Hass zulässt.

Am 13. November 2015 verabschiedet sich Antoine von seiner Frau Hélène, die mit einem Freund ein Konzert besuchen will. Antoine passt auf den kleinen Sohn Melvil auf, liest ein bisschen, erwartet Hélènes Rückkehr. Aber die Frau, die er über alles liebt, kehrt nicht zurück. Denn sie ist eines der Opfer des Terroranschlags im Pariser Konzertsaal Bataclan. Für Antoine bricht seine ganze Welt zusammen. Eine Welt, die nun nur noch aus ihm und seinem Sohn besteht. Und in die der Terror eine Wunde geschlagen hat.

Der Filmemacher Kilian Riedhof erzählt in der deutsch-französisch-belgischen Koproduktion die Geschichte des Attentats auf Paris vom November 2015 aus der Sicht eines Hinterbliebenen. Der Journalist Antoine Leiris hatte nach der Schreckensnacht seine Gefühle in einem weltweit viral gehenden Facebook-Post und später in einem Buch verarbeitet. Riedhof und seine Co-Autor:innen Marc Blöbaum, Jan Braren und Stéphanie Kalfon nähern sich Antoines Schicksal langsam an und erzählen die Geschichte mit großer Ruhe. Auch die Kamera weiß mit diesem Tempo umzugehen. Die Bilder sind, auch mit ungewöhnlichen Einstellungen, nah an Antoine dran, verbreiten Ruhe und Nachdenklichkeit. Die Zuschauenden werden zu einer Art Trauerbegleiter und erleben, wie ein Witwer mit Kind sein Leben, seinen Alltag, seine Realität neu einordnet, nachdem er früher die Familie scheinbar nur als „Durchreisender“ erlebt hat. Pierre Deladonchamps verkörpert die Trauer Antoines sehr überzeugend und hält immer die Balance zwischen Verzweiflung und Pragmatismus. Denn auch die ganz rationalen und bürokratischen Aspekte einer Trauerbewältigung spart der Film nicht aus. Das Appartement, in welches Antoine nach und nach erst in seiner Rolle als Vater und Witwer hineinwächst, wird zu einem weiteren Protagonisten der Handlung und verkörpert authentisch die kokonhafte Abspaltung vom Rest der Welt. Immer wieder blitzen Erinnerungen an das Leben vor der Schreckensnacht auf, auch durch Gegenstände und Gerüche. Das von Antoine veröffentlichte Facebook-Statement gegen Hass und Angstmache durch den Terror setzt den dramatisch-berührenden Höhepunkt, doch der emotionale Anker der Geschichte ist Antoines mitreißend rührende Beziehung mit seinem Sohn, die selbst im Angesicht des Schreckens eine hoffnungsgebende Note setzt.

Foto:
©Verleih

Info:
Meinen Hass bekommt ihr nicht (Deutschland, Frankreich, Belgien 2022)
Originaltitel: Vous n'aurez pas ma haine
Genre: Drama, Literaturadaption
Filmlänge: 102 Min.
Regie: Kilian Riedhof
Drehbuch: Jan Braren, Marc Blöbaum, Kilian Riedhof und Stéphanie Kalfon
Nach dem Buch Meinen Hass bekommt ihr nicht von Antoine Leiris (2016)
Darsteller: Pierre Deladonchamps, Zoé Iorio, Camélia Jordana, Thomas Mustin, Christelle Cornil, Anne Azoulay, Farida Rahouadj, Yannuk Choirat u.a.
Verleih: Tobis Film GmbH
FSK: ab 12 Jahren
Kinostart: 10.11.2022