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Kategorie: Film & Fernsehen
die beidenVERSO SUD 28, das Festival des italienischen Films im Deutschen Filminstitut und Filmmuseum Frankfurt (DFF), Teil 4

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Was soll das sein, verriegelte Luft? Im Film weiß man es mit der ersten Einstellung, wenn der Gefängnisalltag, das Aufschließen der Zellen, das Abschließen die verriegelte Luft sinnlich wahrnehmbar macht. Doch dieser Alltag wird außer Kraft gesetzt. Das Gefängnis wird geschlossen! Nicht, weil keine Gefangenen mehr da wären, sondern weil die Gemäuer alt, verbraucht, unhygienisch, einfach nicht mehr zeitgemäß sind. Das sagt uns der zweite Eröffnungsfilm am Samstag. 

Die Gefangenen werden auf andere Gefängnisse verteilt. Und die Direktorin steigt auf, übernimmt die Leitung zweier weiterer Gefängnisse. Doch dann stockt es. Denn eines der aufnehmenden Gefängnisse kann die 12 Zugeteilten noch nicht nehmen. Vorübergehend, einen Tag, eine Woche, einen Monat, ein Jahr? Keiner weiß etwas von denen, die wir zuvor bei ihrer Abschiedszeremonie kennengelernt hatten: die bisherigen Wärter in ihrer Hierarchie, die meisten gehen in Rente. Pustekuchen, sie müssen unter verschärften Bedingungen weitermachen. Verschärft, weil die Unsicherheit der Inhaftierten groß ist, warum bleiben sie? Und wann gehen sie? Denn erst dann sind wieder Verwandtenbesuche erlaubt. Die Küche hier ist auch geschlossen und das zugelieferte Essen ein Fraß.

Gaetano Gargiolu (Toni Servillo) ist die temporäre Leitung übertragen und er wird uns mit einem stoischen Gesicht und humanen Gesten durch diesen Film geleiten. Sehr differenziert werden ohne viel Aufhebens die differenten Verhalten und Persönlichkeiten des Bewacherpersonals deutlich. Noch stärker, nun aber mit Aufhebens die 12 Gefangenen. Das fängt mit der Zelleneinteilung an, in der Regel zu zweit, nur mit dem Kinderschänder, dem vor sich hinbrabbelnden Alten will keiner zu tun haben.

Die Bleibenden werden in den Zellen, die sich um eine Rotunde lagern, untergebracht. Filmisch ein Hit, denn so kann die Kamera - und wir mit ihr - von oben die Lage überblicken, aber die Gefangenen können sich gegenseitig sehen, miteinander sprechen, zumindest, wenn das äußere Zellentor aufgeschlossen ist und nur noch die Gitter trennen. Deshalb wird der Unmut über die Situation, in der keiner weiß, was mit ihm geschehen wird, am gelieferten Fraß zu einer Demonstration, von der keiner weiß, ob sie nicht zur Revolte führt.
kucheDa schlägt der Gefangene, der den Oberen der gefährlichste scheint – wohl, weil er der Klügste ist - , der Mafioso Carmine Lagioia (Silvio Orlando, im Foto rechts) Gaetano (im Foto links) vor, er würde das Kochen für alle übernehmen, in einer Küche, in der zwar noch alle Geräte vorhanden sind, die aber stillgelegt wurde. Gaetano, eigentlich ein Konservativer, der an Regeln glaubt und auch den Widerstand seiner Kollegen spürt, hier Experimente zu machen, läßt sich darauf ein. Statt fertigem Essen werden Zutaten geliefert und die Küchengespräche zwischen dem Koch und dem Bewacher sind vieldeutig, genauso wie der abgeschlossene Messerschrank, den Gaetano für den Koch aufschließt – und nicht wieder zuschließt. Erst einmal. Und da kann der Zuschauer seine eigenen Fallen erkennen, in die er hineintappt. Denn unterschwellig erwartet er die ganze Zeit einen Ausbruchsversuch des Kochs, gar einen Mord mit dem Messer...

Nichts von alledem, dies ist kein ‚typischer‘ Gefängnisfilm, mit Ausbruch, Geiselnahme etc., dies ist ein Film über Menschen, die in zwei Lagern dem jeweiligen Gruppendruck ausgesetzt sind: dem der Gefangenen und dem des Bewachungspersonals. Und diese Lagergefühle und das Lagerdenken werden durch einen neu hinzukommenden Gefangenen ausgehebelt: Fantaccini (Pietro Giuliano). Der junge Mann ist hier bis zum baldigen Prozeßbeginn in Untersuchungshaft. Er hat bei einem Diebstahl einen Mann schwer verletzt, der jetzt im Koma liegt. Daß dies nicht Absicht war, sieht man dem Milchgesicht deutlich an, so daß auf einmal die beiden Lager die Sorge eint, der junge Mann könne sich etwas antun.

Das ist die Ausgangssituation, in der, verstärkt durch das Kochen, was zum von Gaetano erlaubten, gemeinsamen Essen in der Rotunde führt, an dem sogar gegen Schluß auch noch Wärter mit am Tisch sitzen, auch unter den Bedingungen von Eingesperrtsein, was ja Gründe hat, dennoch eine menschlich wichtige Atmosphäre den Gefängnisalltag für alle – für die Gefangenen wie die Bewacher – erträglicher macht.

Regisseur Leonardo Di Costanzo, bisher Autor gelobter Dokumentarfilme, hat nun mit 54 Jahren diese Fiktion gedreht, die auch bei den Festspielen von Venedig im letzten Jahr groß herauskam und wozu man nach dem Film nur sagen kann, man ist froh, ihn gesehen zu haben.

Fotos:
©Redaktion

Info:
VERSO SUD
28. Festival des italienischen Films | 25.11.-7.12.2022
Das gesamte Programm finden Sie im PDF des Festivalkatalogs und auf der webseite www.dff.film.
Tickets für alle Vorführungen können Sie ab sofort kaufen.