unruhSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 5. Januar 2023, Teil 3

Cyril Schäublin

Bern (Weltexpresso) - Meine Großmutter arbeitete in einer Uhrenfabrik in der Nordwestschweiz, wo sie das mechanische Herz der Uhr, die sogenannte Unruh, herstellte. Viele Frauen in meiner Familie waren in der Uhrenindustrie des 19. und 20. Jahrhunderts tätig. Ich wünschte mir, über ihre Arbeit und die Zeit, die
sie in den Fabriken verbracht haben, einen Film zu machen. Und dabei auch der anarchistisch geprägten Gewerkschaftsbewegung der Uhrmacher:innen des 19. Jahrhunderts Aufmerksamkeit zu schenken.

Ausgehend von den historischen Ereignissen, die das Uhrmachertal von Saint-Imier in der Nordwestschweiz zum politischen Epizentrum der wachsenden internationalen anarchistischen Bewegung machten, rekonstruiert der Film Ereignisse und Situationen in einer Uhrmacherstadt im Jahr 1877. Der Film erzählt auch von der Begegnung zwischen Josephine Gräbli, einer Uhrenfabrikarbeiterin, die die Unruh herstellt, und Pyotr Kropotkin, einem russischen Reisenden und Kartografen. Die Figur des Pyotr ist dem realen Pyotr Kropotkin (1842–1921) nachempfunden. Sein Buch Memoiren eines Revolutionärs, in dem er beschreibt, wie er in der Schweiz zum Anarchisten wurde, war eine wichtige Inspiration für den Film. Die Begegnung zwischen Josephine und Pyotr findet in einer Zeit statt, in der neue Technologien wie die Zeitmessung, die Fotografie und der Telegraf die soziale Ordnung veränderten und sich anarchistische Ideen einem aufkommenden Nationalismus entgegengesetzt sahen.

Indem im Film Situationen der 1870er Jahre nachgestellt werden, wird das Publikum dazu eingeladen, die Beschaffenheit unserer Gegenwart vielleicht noch einmal neu zu betrachten. Handelt es sich bei den Definitionen von Zeit und Arbeit, die im frühen industriellen Kapitalismus entwickelt und etabliert wurden, vielleicht nur um Fiktionen? Wie bestimmen Konstruktionen wie die “Nation” und andere Erfindungen des 19. Jahrhundert die Art und Weise, wie wir heute zusammenleben, wie wir Zeit und Arbeit organisieren und erleben? Gibt es so etwas wie eine kapitalistische Mythologie, die unser tägliches Leben unterschwellig mitbestimmmt? Und welche anderen Erzählungen wären möglich?

Foto:
©Verleih

Info:
Stab

Regie, Drehbuch, Schnitt: Cyril Schäublin
Kamera: Silvan Hillmann

Besetzung
Clara Gostynski      Josephine Gräbli
Alexei Evstratov      Pyotr Kropotkin