unruh1Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 5. Januar 2023, Teil 4

Redaktion

Bern (Weltexpresso) - Was hat es mit dem Filmtitel auf sich?

Die Unruh ist das mechanische Herz einer Uhr. Die Herstellung der Unruh wurde hauptsächlich von Frauen durchgeführt. Meine eigene Großmutter und meine Großtanten arbeiteten in einer Uhrenfabrik in der Nordwestschweiz, und als ich sie für meine Recherchen befragte, erzählten sie mir, dass bereits ihre eigenen Mütter, Tanten und Großmütter ihre Tage mit der Herstellung dieser Unruh verbrachten.


Wie ist die Idee zum Film entstanden?

Die Idee, einen Film über eine Uhrenfabrik zu machen, hatte ich schon während meines Filmstudiums in Berlin. Also begann ich, meine Verwandten zu besuchen, die in diesen Fabriken gearbeitet haben, um ihre Erinnerungen und Erfahrungen zu sammeln. Wichtig war auch das Buch La condition ouvrière der anarcho-syndikalistischen Philosophin Simone Weil, in dem sie ihre Arbeit in einer Stahlfabrik beschreibt. Ich interessierte mich für den Alltag in einer Uhrenfabrik und dafür, wie er die Wahrnehmung der Zeit bei der Belegschaft prägt. Simone Weil spricht von der Kadenz als einem Druckmittel auf die Belegschaft, sich wiederholende Arbeiten nach Zeitintervallen zu erfüllen, die ihnen aufgezwungen werden und oft keinen Raum für ihren eigenen Arbeitsrhythmus lassen.


Wie kam der Anarchismus in den Film?


Während seines Anthropologiestudiums in England entdeckte mein Bruder Emanuel, der mich später als ethnographischer Berater für den Film unterstützte, die anarchistische Theorie und Bewegung des 19. Jahrhunderts und ihre Verbindungen zur Schweizer Uhrenindustrie. Er brachte mich dazu, Texte des russischen Anarchisten Pyotr Kropotkin zu lesen. Als ich über das autobiografische Zitat stolperte, in dem Kropotkin beschreibt, wie er zum Anarchisten wurde, nachdem er ein Schweizer Uhrmachertal und dessen anarchistische Bewegung besucht hatte, wusste ich sofort, dass dies Teil des Films sein würde – neben einer Figur, die von meiner eigenen Großmutter inspiriert war, einer Uhrenfabrikarbeiterin, die die Unruh herstellte.


Was ist die Verbindung zwischen der Uhrenindustrie und dem Anarchismus?

In ihren Anfängen war die sozialistische Bewegung im 19. Jahrhundert, die für die Rechte der Arbeiterklasse kämpfte, eine gigantische Organisation, die sogenannte Erste Internationale, mit Marx und Engels als ihren mehr oder weniger selbst ernannten Vordenker:innen und Anführer:innen. Im Jahr 1871 veröffentlichte eine Sektion der Schweizer Uhrenarbeiter:innenbewegung aus Sonceboz einen Zirkularbrief, in dem sie die autoritäre Rolle von Marx und Engels innerhalb der sozialistischen Bewegung kritisch hinterfragte. Der Brief stieß in der internationalen sozialistischen Bewegung auf dermaßen große Aufmerksamkeit und Sympathie, dass eine neue Gruppe innerhalb der sozialistischen Bewegung gegründet.

Sie bezeichnete sich selbst als Erste Anti-Autoritäre Internationale in Opposition zur kommunistischen Ersten Internationalen. Der erste Kongress dieser neuen Gruppe fand 1872 in der Schweizer UhrmacherGemeinde Saint Imier statt. Der Kongress zog Mitglieder und Besucher:innen aus ganz Europa  Russland an. Viele spanische, italienische aber auch deutsche Anarchist:innen blieben in dem Tal und druckten dort Zeitungen und Bücher, welche illegal ins Ausland geschmuggelt wurden. In den folgenden Jahren wurde das Tal zum Treffpunkt der internationalen anarchistischen Bewegung. Die meisten Schweizer Anarchist:innen, wie Adhémar Schwitzguébel oder Auguste Spichiger, waren Uhrmacher:innen. Das hat auch damit zu tun, dass die Schweizer Uhrenindustrie einerseits eine riesige Industrie war, die bereits
in den frühen 1870er Jahren jährlich Millionen von Uhren ins Ausland exportierte und den Großteil der Uhren auf dem Weltmarkt produzierte. Andererseits war die Uhrenindustrie im Vergleich zu anderen Industrien zu dieser Zeit noch äußerst dezentralisiert. Diese Dezentralisierung der Produktion lässt sich zum Teil dadurch erklären, dass die Herstellung einer Uhr sehr komplex war und mehr als 315 verschiedene professionelle Arbeitsschritte umfasste. Dadurch konnten die Werkstätten, die die verschiedenen Teile herstellten, eine gewisse wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit bewahren, die offenbar den autonomen und anarchistischen Geist unter den Arbeiter:innen förderte, den Pyotr Kropotkin in seinen Memoiren festzuhalten versucht.


 Was hat es mit der Liebegeschichte im Film auf sich?

Meine ursprüngliche Idee war es, die “Liebesgeschichte”, den bekannten “Boy-meets-Girl”- Aspekt, in eine Art Persiflage des Genres zu packen. Sie gipfelt in der Schlussszene, wenn die Begegnung zwischen Josephine und Pyotr von den Leuten, die ihre Fotos kaufen, fiktionalisiert und vermarktet wird. Amüsanterweise fiktionalisiert und vermarktet die “Liebesgeschichte” auch den eigentlichen Film und wertet ihn dahingehend vielleicht auf. Aber letztlich nimmt der Film, zumindest für mich, eine Position ein, die weit von einer Persiflage entfernt ist. Dass Liebe schlussendlich undefinierbar und unbeschreiblich ist, auch wenn die Bilder von Josephine und Pyotr sichtbar und käuflich sind. Arthur Rimbaud sagte über die Liebe, dass sie neu erfunden werden müsse („L‘amour est à réinventer“). Ich denke, die Liebe bringt
uns auch dazu, unsere Welt neu zu erfinden, unsere Vorstellungen von der Welt und wie wir uns in ihr bewegen.


Wieso die Entscheidung, mit Laiendarsteller:innen zu arbeiten?


Ich wollte Situationen aus den 1870er Jahren einerseits mit Menschen nachstellen, die mit der heutigen Uhrenindustrie verbunden sind, aber auch mit Freund:innen von mir, oder Menschen die ich zufällig getroffen habe, Menschen die Lastwagen fahren, Architekt:innen sind, in Restaurants arbeiten, oder Dächer flicken, um ihre Miete zu bezahlen. Der Wunsch war, mit diesem Ensemble eine Art Sprache der Vergangenheit reproduzieren zu können, die nicht “historisch” klingt. Ich war an einer Alltagssprache interessiert, die von den im Film auftretenden Personen gesprochen wird. Ich stellte mir vor, dass diese Art von marginalisierter und zufälliger Alltagssprache in den 1870er Jahren genauso existiert haben muss wie heute.


Im Film gibt es keine Musik, mit Ausnahme von zwei Chören. Warum?

Für mich war es entscheidend, nicht nur die anarchistische Bewegung in dem Uhrmacherort mit ihrem internationalistischen, pazifistischen und egalitären Ansatz zu zeigen. Ich wollte auch Situationen mit der entgegengesetzten politischen Partei der damaligen Zeit nachstellen, der liberalen, autoritären, patriarchalischen und nationalistischen Bewegung, die ja schlussendlich historisch in der Gestaltung der aktuellen Schweiz aber auch Europas viel einflussreicher war. Durch die Gegenüberstellung von Situationen dieser beiden Bewegungen wird das Publikum dazu eingeladen, sich eine eigene Meinung darüber zu bilden, wie sich Gesellschaften die Vergangenheit vorstellen, um ihre Gegenwart zu gestalten.

Die beiden Chöre und ihre Lieder, deren Texte aus demselben Zeitraum der 1860 - 70er Jahre stammen, repräsentieren vielleicht diese Idee einer symmetrischen Gegenüberstellung der beiden dominierenden politischen Bewegungen in einer Schweizer Uhrmachergemeinde. Das eine ist die alte Schweizer Nationalhymne, das andere ist ein anarchistisches Lied mit dem Titel Der Arbeiter hat kein Vaterland (L‘ouvrier n‘a pas de patrie).


Möchte der Film ein Licht auf unsere Gegenwart werfen?

ch denke, dass es in mancherlei Hinsicht sicher Parallelen zwischen den 1870er Jahren und unserer Gegenwart gibt. Man könnte davon ausgehen, dass viele Bausteine der Konstruktion unserer Gegenwart in dieser Epoche gelegt wurden, vor allem natürlich die Schaffung von Nationalstaaten auf der Grundlage nationalistischer Geschichtsnarrative, die in der Schule gelehrt und in der Presse fortgeschrieben wurden. Der Historiker Benedict Anderson beschreibt dies sehr schön in seinem Buch Imagined Communities. Und natürlich sind die Auswirkungen der neuen Technologien von damals auch heute noch zu spüren. Die Fernkommunikation, die zunächst durch den Telegrafen ermöglicht wurde, die Verbreitung der Fotografie, die das politische Bewusstsein und deren Repräsentation veränderten, sowie an die Zeitmessung durch die Verbreitung von Uhren und ihre Auswirkungen auf die Organisation von Arbeit und Alltag nach festgelegten Zeitplänen. Gegenwärtig sind wir gleichsam mit neuen Technologien konfrontiert, die umstrukturieren, wie wir uns organisieren. Indem wir unsere eigene Zukunft mit neuen Technologien gestalten, bauen wir weiterhin auf unserer eigenen Vergangenheit auf. Ich denke, eine der grössten Fragen unserer Gegenwart ist, wie wir unsere eigene Geschichte in Beziehung setzen oder möglicherweise umschreiben, wie wir Geschichte definieren und welche Informationen wir aus ihr entnehmen, um neue politische Gefäße in unserer Gegenwart aufzubauen. Auch in diesem Film stellen die Leute die Vergangenheit nach, um die Gegenwart zu gestalten: Die anarchistische Bewegung stellt die Pariser Kommune nach, mit ihren Idealen der Lohngleichheit zwischen Mann und Frau und der gleichmäßigen Verteilung des Besitztums. Der Direktor der Uhrenfabrik hingegen tritt mit seinen Parteifreund:innen dafür ein, die mittelalterliche Schlacht von Murten nachzustellen, in der die Streitmacht der Schweiz gegen das Burgund antritt, um in der Bevölkerung nationalistische Gefühle zu wecken und Unterstützung für den entstehenden Bundesstaat zu gewinnen. Welche Elemente des historischen Gedächtnisses werden heute nachgespielt und aufgeführt, und wie werden solche Entscheidungen unsere Gegenwart und Zukunft prägen?


Wo wurde der Film gedreht, und wie sah die Arbeit am Set aus?

Der gesamte Film wurde in und um das Tal gedreht, in dem 1872 der erste internationale anarchistische Kongress stattfand, im Tal von Saint-Imier im nördlichen Teil des Kantons Bern. Wir haben mit einem kleinen Kamerateam gearbeitet und ausschließlich mit natürlichem Licht gearbeitet. Die produktionellen Herausforderungen bei der Produktion waren die historischen Kulissen und die Kostüme für die vielen Statist:innen.


Wie wurde an den Dialogen und dem Drehbuch gearbeitet?

Ausgehend von den ausgewählten Bildern und Einstellungen, die neben der Arbeit am Drehbuch entwickelt wurden, habe ich Szenen entwickelt, die als Grundlage für Situationen dienen sollten, die sich bei den Dreharbeiten entwickeln würden. Letztendlich sind die meisten der Dialoge, die ich im Drehbuch geschrieben habe, nun im Film zu hören, aber einige Dialoge sind auch während der Dreharbeiten am Set entstanden.

Es war sehr wichtig, das Drehbuch mit verschiedenen Partner:innen zu entwickeln, vor allem mit dem historischen Berater des Projekts, Florian Eitel. Sein Buch Anarchistische Uhrmacher im 19. Jahrhundert in der Schweiz mit seinem mikrohistorischen Ansatz war wesentlich für das Schreiben des Films und die Entscheidung, welche historischen Fakten und Quellen ausgewählt und wie sie in den Film integriert werden sollten. Mein Bruder Emanuel hat mich ethnographisch beraten, wie ich das Wissen verschiedener Menschen, denen ich auf meinen Erkundungsreisen in der Region begegnet bin, in das Drehbuch einfügen würde.


Kannst Du andere Künstler:innen oder Filmemacher:innen nennen, die Dich inspiriert oder beeinflusst haben?

Während der Arbeit an diesem Film habe ich viele Dichter:innen und Schriftsteller:innen gelesen, wie Teju Cole, Patrizia Cavalli, Anton Čechov oder die Essays von Ursula K. Le Guin. Auch die fotografischen Arbeiten von Iris Lacoudre und die Gemälde von Luo Ping oder Franz Gertsch haben mich ermutigt.


Und wie ist es mit Filmemacher:innen?

Natürlich schaue ich mir gerne zeitgenössisches Kino an und interagiere damit, aber ich liebe ein Zitat von Fritz Lang aus den 1960er Jahren, als er sagte, dass es, als er Anfang der 1920er Jahre zu arbeiten begann, noch keine Genres gab, und dass er Mitleid mit jungen Filmemachern hatte, die in so vielen Kanälen und Genres denken müssten und darüber, was sie eigentlich tun. In diesem Sinne gehe ich gerne zurück zu den Anfängen des Kinos, zu Friedrich Murnau, Elvira Notari oder Yasujiro Ozu, als das Kino noch erfunden wurde und vielleicht noch nicht so sehr in seinen eigenen Definitionen gefangen war. Ich wünsche mir, diesen Geist irgendwie in die Gegenwart mitzunehmen und zu versuchen, von dort aus zu beginnen.


Foto:
©Verleih

Info:
Stab

Regie, Drehbuch, Schnitt: Cyril Schäublin
Kamera: Silvan Hillmann

Besetzung
Clara Gostynski      Josephine Gräbli
Alexei Evstratov      Pyotr Kropotkin