Bildschirmfoto 2023 01 25 um 23.41.24Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 26. Januar 2023, Teil 3

Redaktion

Seoul (Weltexpresso) –  Warum wollten Sie diese Geschichte erzählen?


2011 habe ich meinen ersten abendfüllenden Dokumentarfilm Golden Slumbers auf dem Busan International Film Festival in Südkorea gezeigt. Eine Freundin von mir, Laure Badufle, begleitete mich, um mir „ihr Land“ zu zeigen.
Laure ist in Südkorea geboren und wurde als einjähriges Kind in Frankreich adoptiert.
Sie kehrte mit dreiundzwanzig Jahren zum ersten Mal in ihr Geburtsland zurück und lebte dort zwei Jahre, bevor sie nach Frankreich zurückging. Bevor wir abreisten, warnte sie mich: „Wir werden meinen leiblichen koreanischen Vater nicht wiedersehen". Ihre erste Begegnung war nicht gut verlaufen. Nach zwei Tagen auf dem Festival in Busan sagte sie zu mir: „Schau mal, ich habe meinem Vater ein paar Nachrichten geschickt. Wir treffen uns morgen in Jinju, eineinhalb Stunden von hier entfernt. Willst du mitkommen?"

Wir nahmen einen Bus und ich fand mich beim Mittagessen mit ihrem leiblichen Vater und ihrer Großmutter wieder – eine sehr bewegende Erfahrung für mich. Die Begegnung der beiden war geprägt von einer emotionalen Mischung aus Traurigkeit, Bitterkeit, Unverständnis und Bedauern... Das alles hatte sogar eine tragikomische Dimension, denn man konnte erkennen, dass sie nicht in der Lage waren, sich gegenseitig zu verstehen. Wir hatten eine Dolmetscherin mitgebracht, die  große Schwierigkeiten hatte, die Wutausbrüche meiner Freundin zu übersetzen und sie, wie es koreanische Sitte ist, mit Höflichkeit wiederzugeben.

Da mich diese Situation zutiefst bewegte, beschloss ich, eines Tages vielleicht einen Film darüber zu drehen. Nach der Veröffentlichung meines ersten Spielfilms Diamond Island dachte ich wieder darüber nach. Ich habe mit Laure gesprochen und sie war sehr angetan von meiner Idee.


Der Film thematisiert internationale Adoptionen, geht aber auch darüber hinaus.
Freddie versucht sich selbst zu finden. Sie löst sich ständig von den
Identitäten, die ihr zugeschrieben werden.

Die Geschichte meiner Freundin, die jetzt übrigens eine Therapie für Adoptivkinder und -eltern anbietet, hat mich auf diese Spur gebracht. Ihr hartnäckiger und unberechenbarer Charakter hat mich inspiriert.

Während ich das Drehbuch schrieb, habe ich ihr viele Fragen gestellt, denn ich bin weder eine Frau noch in Südkorea geboren – und adoptiert wurde ich auch nicht. Diese Distanz ließ mich an meiner Legitimität zweifeln, diese Geschichte adäquat erzählen zu können. Aber irgendwann öffnete sich eine Tür und ich fand mich in diesem Projekt wieder. 

Ich kam in Frankreich zur Welt und habe Eltern, die in Kambodscha geboren wurden. Das erste Mal besuchte ich Kambodscha als ich 25 Jahre alt war. Meine Beziehung zu diesem Land war ähnlich wie die Freddies zu Südkorea am Anfang des Films. Ich war weit davon entfernt mir vorzustellen, dass diese Rückkehr zu meinen Wurzeln mein Selbstverständnis auf den Kopf stellen könnte. Das Leben bringt dich dazu, deine Identitäten, die Beziehung zur Welt und dich selbst zu hinterfragen.

Die Perspektive, die mich aus meiner Sicht als Regisseur französischer Herkunft interessierte, war die einer Person, die sich konsequent weigert, ein Schema zu bedienen oder sich von anderen etwas vorschreiben zu lassen. Freddie definiert sich neu, behauptet und erfindet sich. Das ist das universelle Thema der Identitätsfindung: Wer bin ich? Wo ist mein Platz? Wo stehe ich im Vergleich zu anderen?


Inwieweit war Park Ji-Min, die Darstellerin der Freddie, an der Ausarbeitung ihrer Figur beteiligt?

Ich habe sie durch einen Freund, den Künstler Erwan Ha Kyoon Larcher, kennengelernt, der eine koreanische Adoptivmutter hat. Wir sprachen über den Film, und die Figur erinnerte ihn an Park Ji-Min – eine Bildhauerin, deren Werke faszinierend sind. Sie wurde in Südkorea geboren und kam nach Frankreich, als sie acht Jahre alt war. Ich wollte jemanden, der eine Verbindung zu Südkorea hat und nicht einfach, wie zunächst geplant, eine ostasiatische Schauspielerin. Für das Casting traf ich mich mit Menschen südkoreanischer Herkunft, die adoptiert worden waren. Ich habe ihnen zugehört und das hat dem Film sehr gutgetan. Aber als ich Park Ji-Min traf, die kein Adoptivkind ist, schien sie die richtige Wahl zu sein. Sie hatte noch nie geschauspielert, aber agierte intuitiv. Es war eindrucksvoll zu sehen, wie sie in der Lage war, die volle Bandbreite der Emotionen zwischen extremer Gewalttätigkeit und
Verletzlichkeit, die Freddies Charakter kennzeichnen, auszudrücken.

Ich hatte drei Jahre an dem Drehbuch gearbeitet und plötzlich sah ich mich mit den Erfahrungen einer Frau südkoreanischer Herkunft, die in Frankreich aufgewachsen ist, konfrontiert. In der Vorbereitungsphase des Films hat sie mich an meine Grenzen geführt: Sie stellte mir viele Fragen und übte sogar Kritik am Drehbuch, beispielsweise stellte sie das Verhältnis der Figur zur Weiblichkeit und zu Männern infrage. Diese zum Teil harten Diskussionen zogen sich über Monate hin und zwangen mich, mich selbst zu hinterfragen. Mir wurde klar, dass ich in meiner Position als männlicher Regisseur möglicherweise bestimmte Klischees reproduziert hatte.


Park Ji-Min und ich entwickelten schnell eine vertrauensvolle Beziehung zueinander, auf deren Grundlage wir diese Zeit gemeinsam meistern konnten. Ich verstand, dass ich meine Perspektive ändern musste und das war sehr befreiend. Freddies Charakter ist das Ergebnis dieser Zusammenarbeit mit ihr auf gleicher Augenhöhe.



Wo ist es ihr gelungen, bei Ihnen an den geschlechtsspezifischen Stereotypen zu rütteln?

Zum Beispiel bei der Konstellation von Macht und Herrschaft zwischen Freddie und den männlichen Figuren, die besonders bei ihrem koreanischen Vater deutlicher geworden ist. Freddies Wut resultiert auch aus dem Bedürfnis heraus, dieses Machtgefüge umzustoßen. Außerdem hatte ich eine Figur geschaffen, die in Bezug auf ihre Kleidung und die Art, sich Männern gegenüber zu geben, möglicherweise traditioneller war. Das war für Park Ji-Min die Reproduktion eines männlichen Standpunkts. Mit ihr und der Kostümbildnerin Claire Dubien haben wir viel über den Modestil der Figur nachgedacht. Schließlich fiel uns Furiosa in Mad Max: Fury Road von George Miller ein. Nach und nach wurde Freddie eine Kriegerin, die sich nicht scheut, ihre Wut auszudrücken. Indem sie sich wehrt und für Aufruhr sorgt, zwingt sie die Menschen, ihre Sicht der Dinge zu überdenken. Ich sehe sie als eine Art „Agentin des Chaos“, deren Suche nach Leben und Freude Veränderungen bewirkt. Außerdem ist sie zielstrebig und stellt sich ihren Ängsten. Ich wollte bewusst die Erwartungen und Vorstellungen von asiatischen Frauenfiguren in Filmen unterlaufen, die oft zarte Heldinnen sind, deren Seelenleben offenbart wird. Aber hier haben wir eine explosive Figur, die gegen den Strich gebürstet und nicht nur ein nettes Mädchen ist.


Die Geschichte spielt sich in einem Zeitraum von über acht Jahren ab. Warum haben Sie sich entschieden, diese Figur so lange zu begleiten?


Ich war schon immer von Filmen begeistert, die uns durch ein ganzes Leben führen. In den drei Teilen von RETURN TO SEOUL begegnen wir Freddie an ganz bestimmten Zeitpunkten ihres Lebens. So werden Teile ihrer Existenz sichtbar, die ihrem Charakter Tiefe verleihen. 

Mir widerstrebt die Idee, dass am Schluss die Hauptfigur mit sich selbst versöhnt ist. Geht es um Fragen der Identität und der Integration, greift man oft auf eine Art fiktives Schema zurück: ein dramaturgischer Zauberstab wird geschwenkt und die Figuren sind plötzlich mit sich im Reinen. Bei Geschichten über Adoptionen liegt es nahe, dass die Begegnung mit den biologischen Eltern die offene Wunde heilen könnte. Doch nach meiner Recherche ist das in der Regel der Moment, an dem alle Probleme beginnen! Wenn ich meine früheren Filme betrachte, sehe ich in ihnen die Idee, dass es Zeit braucht, um die richtige Distanz zu finden. Ich glaube, das hängt mit meiner eigenen Geschichte zusammen. In meinem Dokumentarfilm Golden Slumbers blickte ich auf das goldene Zeitalter des kambodschanischen Kinos der 1960er-Jahre zurück, als mein Großvater, den ich nie kennengelernt habe, Filmproduzent war. Da gab es bereits diese Schizophrenie einer facettenreichen Vergangenheit einerseits und der absoluten Unkenntnis dieser Vergangenheit andererseits. Und in Diamond Island habe ich junge Menschen von heute gefilmt, die von Modernisierung träumen und so tun, als hätte der Genozid nie stattgefunden.

Vielleicht fragte ich mich unbewusst nach der richtigen Distanz zu den Dingen, die auch Freddie in ihrer eigenen Geschichte finden muss.


Die fehlende Kommunikation zwischen den Figuren wird oft durch Musik aufgelöst. Was drückt diese Musik aus?

Im Film wirbeln die Sprachen Französisch, Koreanisch und Englisch durcheinander – schon das macht deutlich, wie unmöglich es ist, Dinge wirklich auszudrücken. In der Übersetzung geht immer etwas verloren. Die Musik gleicht aus, was der Sprache im Wege steht. In der Szene, in der Freddie tanzt, musste sie quasi brennen und von allen ihren negativen Emotionen befreit werden. In diesem Moment hat sie das Gefühl gegen eine Wand zu laufen, da jeder ihr eine koreanische Identität zuweisen will. Dem begegnet sie mit intensiver Lebensfreude und Kraft, die sie der Welt provokant entgegenschleudert.

Im Film ist die Musik ein Berührungspunkt, an dem zwei scheinbar unversöhnliche Menschen, wie Freddie und ihr biologischer Vater, der von dem großartigen Oh Kwang-Rok (Oldboy, 2003) gespielt wird, es für einen Augenblick schaffen, sich die Hand zu reichen und zu verstehen.


Die Stadt Seoul entwickelt sich ähnlich wie unsere Heldin. Zu Beginn des Films scheint sie ein unbestimmter Raum zu sein und die Tiefenschärfe ist gering. Im Laufe der Zeit weitet sich der Rahmen und Freddie macht sich die Stadt zu eigen.

Zu Beginn des Films habe ich sehr viele Innenaufnahmen gewählt, also genau das Gegenteil von den Außenaufnahmen, die man eigentlich von einem Reisefilm erwartet. Da habe ich eigene Erfahrungen verarbeitet: in Seoul haben wir viel Zeit in Bars und Restaurants verbracht. Ich glaube, dass diese Entwicklung die innere Reise der Figur darstellt, die mit sich selbst und ihrer Vergangenheit konfrontiert wird. Freddie ist ein wenig gierig, sie absorbiert die menschlichen Energien um sie herum und verwandelt Statisten in Charaktere, wann immer sie will. Diese fast schöpferische, sehr zielgerichtete Seite in ihr rührt möglicherweise von ihrer Angst her. Sie übernimmt die Kontrolle über ihre Umwelt und geht brutal mit ihr um.

Im zweiten Teil des Filmes scheint es, als wolle Freddie sich mit Extremen messen: Sie wohnt so weit oben, dass sie die Stadt aus der Vogelperspektive betrachten kann, aber gleichzeitig folgen wir ihr durch den Untergrund mit all den subversiven Figuren, die im Nachtleben von Seoul zu finden sind. Im dritten Teil wirkt sie gelassener, auch wenn, wie sie es selbst sagt, diese Gelassenheit im Handumdrehen verschwinden kann. Die Dinge sind immer unbeständig, ungelöst und in ständiger Veränderung. Das ist es, was mich interessiert und was wir von der Figur lernen können.

ÜBER DAVY CHOU

Davy Chou, Jahrgang 1983, ist ein französischer Regisseur und Produzent, der in Paris und Phnom Penh lebt. Er ist Mitbegründer der französischen Produktionsfirma Vycky Films und der kambodschanischen Produktionsfirma Anti-Archive. Davy Chou, Jahrgang 1983, ist ein französischer Regisseur und Produzent, der in Paris und Phnom Penh lebt. Er ist Mitbegründer der französischen Produktionsfirma Vycky Films und der kambodschanischen Produktionsfirma Anti-Archive.

Foto:
©Verleih


Info;
RETURN TO SEOUL

2022 Belgien / Deutschland, Frankreich, Qatar / 116 Min / Französisch, Koreanisch,
Englisch. In der Kinofassung für den deutschen Start ist Französisch synchronisiert,
alle andern Sprachen untertitelt.

STAB 
Regie und Drehbuch DAVY CHOU
Kamera THOMAS FAVEL

BESETZUNG

Freddie        PARK JI-MIN
Freddies koreanischer Vater OH KWANG-ROK
Tena           GUKA HAN
Maxime     YOANN ZIMMER
Großmutter    HUR OUK-SOOK
Koreanische Tante    KIM SUN-YOUNG