Bildschirmfoto 2020 09 22 um 02.39.19DAS JÜDISCHE LOGBUCH  September 2020

Yves Kugelmann

Basel (Weltexpresso) -  Drehbuchautor und Regisseur Amos Gitai setzt sich an den Tisch auf einer Terasse am Strand des Lidos von Venedig. Dann fragt er: «Ist hier noch frei?» Wie so oft kommt bei Israelis die Antwort vor der Frage. Nicht ohne Schmunzeln bei einem, der sonst wenig lächelt. Und so beginnt das zufällige Gespräch über Gitais Vater, den Bauhaus-Architekten, Filme und alles was so dazu gehört.

Das Filmfestival von Venedig ist das erste seit Ausrufung der Pandemie-Verordnungen weltweit, das wieder real und eben nicht virtuell stattfindet. Die zufälligen Begegnungen, die freie Zusammenkunft von Menschen verschiedener Kulturen und Länder ist wieder da. Alles etwas weniger und kleiner als sonst. Aber real, inspiriert und mit einer Kraft der Erkenntnis, die sich aus den vergangenen Monaten zwischen Lockdown und Ungewissheit abgespielt hat. Der Sauerstoff für Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft belebt die fast erstickte Gemeinschaft.

Gitai erzählt von nächsten Projekten. In diesem Jahr hat es kaum israelische, aber doch einige jüdische Produktionen. Doch längst ist das diesjährige Programm zur Nebensache geworden. Verhandelt wird die Zukunft gesellschaftlicher Themen und natürlich der Industrie. Was wird aus der Kino-Branche, welche internationalen und teils lokalen Streaming-Plattformen werden sich durchsetzen und wie kann das Kulturgut Film weniger abhängig sein von Marktmechanismen. Gerade im Film zeigt sich, wie Geist und Geld sich nicht die Waage halten und viele kleine wichtige Produktionen, für die gerade Venedigs Filmfestival seit eh und je eine gute Plattform bietet, oft unter die Räder kommen.

Längst sind die täglichen Screenings vorbei und beim Gang durchs Ghetto von Venedig offenbaren sich die verkehrten Welten. Wo einst Juden separiert wurden, findet sich heute das Rückzugsgebiet in einer Stadt, die bereits wieder viele Besucherinnen und Besucher aus Italien und dem nahen Europa empfängt. Die jüdische Gemeinde bereitet die hohen Feiertage unter Pandemie-Bedingungen vor und findet erstmals richtig zu sich selbst nach vielen Jahren des regelrechten Ansturms von Touristen aus aller Welt.

Längst ist es dunkel geworden. Der Weg führt durch die stillen Gassen über Brücken und ruhige Wasserstrassen an der Lagune. In Harry’s Bar sprüht das alte Leben. Filmbranche und Gesellschaft treffen sich. Der sehenswerte Dokumentarfilm «The Rosselinis» wird heiss diskutiert und damit auch die Hinterlassenschaft eines der großen Meisters des Kinos: Roberto Rosselini. Am Lido ist die Nacht längst eingebrochen. Der Halbmond spiegelt sich im Wasser und ein letzter Spaziergang bis in die tiefe Nacht mit Journalisten über den Strand lässt den Tag enden, wie am Lido jeder beginnt. Mit dem stundenlangen Auf-und-ab-Gehen im Sand. Der Rhythmus des Ortes der Begegnung, der Gespräche und der aufbrechenden Zukunft. Ausgerechnet im untergehenden Venedig.

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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 18. September 2020
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.