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Kategorie: Kulturbetrieb

In den Hamburger Kammerspielen, Teil 2

 

Helmut Marrat

 

 

Weltexpresso (Hamburg) -Im Programmheft las ich nach, das sich das Stück auf ein tatsächlich existierendes Künstler-Altersheim in Mailand bezieht, nämlich auf die "Casa Verdi". Dieses Altersheim wurde von Verdi selbst noch ins Leben gerufen und jahrzehntelang durch die Tantiemen aus seinen Werken finanziert. Aber dieser Urheberrechtsschutz besteht nur bis 70 Jahre nach dem Tod fort.

 

Verdi, geboren am 9. oder 10. Oktober 1813 in der Provinz Parma, Oberitalien, starb am 27. Januar 1901 in Mailand. Demnach wären seine Werke nur bis Anfang 1971 urheberrechtlich geschützt gewesen. Seitdem jedenfalls wurde die "Casa Verdi" in eine Stiftung umgewandelt. Die Statuten wurden den Bedürfnissen der Gegenwart jeweils angepasst, damit die Stiftung wirtschaftlich zurechtkommen kann. (Man kann das im Internet nachlesen.) Wohnen kann dort jeder Künstler, der sein Leben lang hauptberuflich Künstler, vor allem darstellender Künstler war. Bezahlt wird, was möglich ist. - Aber die Persönlichkeiten, die dort wohnen, sind doch selbstbewußte Persönlichkeiten, und übrigens auch sehr ausgewählt gekleidet. (Jedenfalls auf den im Internet veröffentlichten Fotos.)

 

Davon aber hätte ich in dieser Inszenierung noch mehr sehen wollen. Die auftretenden Künstler sind gut, aber doch alle eine Spur mittelmäßig. Und was in der "Casa Verdi" auch anders ist: Dort finden jedes Wochenende Konzertveranstaltungen statt, nicht nur, wie es hier im Stück heißt, ausnahmsweise zu Verdis Geburtstag (den das Stück übrigens auf den 10. Oktober festgeschrieben hat). Der Stand und Standard also ist im Vorbild zum Stück also eine Stufe höher als hier in dieser Aufführung. Das ist mehr Unterschied als Mangel.

 

Wenn ein Zuschauer den Zuschauerraum betritt, blickt er schon auf das fertig ausgeleuchtete Bühnenbild. Das Bühnenbild selbst ist hell. Hinten an den Wänden hängen die Bilder von Musikern. Verdi erkennt man leicht, rechts von der verglasten breiten Terrassentür. Hier und da stehen Sitzmöbel. Das Bühnenbild ist so, dass man sofort die Inszenierung vor sich sieht mit ihren Möglichkeiten. Und doch wird man immer wieder überrascht. Das ist ganz zweifellos eine Leistung der Schauspieler, eine Leistung der Regie. Gut sind auch die Blicke hinten in den anzunehmenden Garten oder weitläufigen Hof. Das wird angedeutet, vermittelt sich aber vor allem durch das Spiel. Die Weitläufigkeit. Ein Park mit alten Bäumen darin und einzelnen entfernten Häusern, in denen sich diese Altersheim-Anlage fortsetzt. Auch die Blicke auf den vermeintlichen Flur erweitern dieses Bühnenbild, das denn doch mehr Geheimnisse birgt, als man auf den ersten Blick zu sehen meinte.

 

Vier Schauspieler schieben sich durch den Raum, über die Bühne. Zunächst sind es aber nur drei. Und das Verb "schieben" passt eigentlich nur auf Anke Tegtmeyer. Trotz ihrer Körperfülle vermittelt sie etwas Leichtes, Schwebendes: Anke Tegtmeyer als alt gewordene höhere Tochter, fast ein bißchen androgyn in der Wirkung und fast, trotz ihres Leibesumfangs, schwerelos durch den Raum gleitend. Sie spielt die Sängerin Cissy. - Anfangs sitzt sie allerdings im Hintergrund auf einem Sessel und hört per Kopfhörer Opernarien.

 

Es sind natürlich Opernarien, denn alle diese Figuren stellen ja Opernsänger dar. Nämlich die Mitglieder eines Quartetts. Daher muss auch natürlich noch eine vierte Figur hinzukommen, was später geschieht. Gerhard Garbers, der sich auf Krücken bewegt, raunt dieser Frau im Sessel sexuelle Avancements zu, Zoten auch sogar, - wohl wissend, dass er von ihr nicht gehört werden kann. Aber so wird er seine Phantasien und Sorgen los, adressiert sie an eine weibliche Person – und weiß doch, dass er keine Reaktion zu befürchten, zu erhoffen hat.

 

Vorne ebenfalls in einem Sessel sitzt Werner Rehm als Tenor Reggie. Er spielt eine etwas verklemmte, sich in Bücher mit Musikgeschichte und -theorie verkriechende Figur. Rehm wirkt etwas buchhalterisch. Aber diese Wirkung hat er fast immer. Sie gibt ihm sogar eine gewisse Komik. Wie herrlich war er so als Lehrer Kulygin in Peter Steins "Drei Schwestern"-Inszenierung an der Schaubühne, Mitte der 1980er Jahre! - Und er ist eigentlich der einzige, dem man den Sänger so leicht nicht glaubt. Dafür spielt er mit der größten Präzision; und erreicht mit Knappheit seine Wirkungen, die der Zeichnung seiner Figur dienlich sind. Jeder Gang, jede Bewegung sitzt, wie festgelegt, fast wie gestanzt – und alles andere als dionysisch.

 

Und dann hat Dinah Hinz als Jean ihren großen Auftritt. Das ist ein alter Theatertrick, den schon Molière beherrschte, dass über eine Figur von den anderen Figuren immerzu geredet wird, damit das Interesse des Zuschauers auf diese Figur gelenkt wird, - und plötzlich tritt diese Figur dann überraschend auf. Dinah Hinz ist die Sopranistin dieses ehemaligen und ehemals erfolgreichen Quartetts, daher auch der Titel des Stücks natürlich: "Quartetto". Sie stört eigentlich sofort! Bringt Unruhe in diesen Kreis der beiden Männer um die eine Frau; den Möchte-Gern-Sexprotz und den verklemmten Bücherwurm. Aber sie betritt frei von jedem Selbstzweifel die Bühne, besser noch: die Szene – und alles dreht sich längere Zeit nur noch um sie. Ein mir befreundeter Musiker sagte: Genau dieses Verhalten sei typisch für Sopranistinnen. Und Dinah Hinz glaubt man die Sopranistin sofort.

 

Und da alle sich schon aus ihrer beruflichen, jedoch auch privaten Vergangenheit kennen, haben sie Geschichten miteinander, oft ungelöste, und so ist – wenn auch nicht gerade Sprengstoff – so doch Spannungsstoff in ausreichender Menge vorhanden.

 

Die Schauspieler spielen gut und sehr beteiligt. Dabei soll nicht ganz übersehen werden, dass die Szenen vor der Pause besser geprobt worden sind als die späteren Szenen. Ist Heyme ein großer Regisseur? - Nein. Das ist er auch nie gewesen. - Aber er ist hier ein guter Regisseur. Seine mutigste Tat war, - sofern sie nicht durch das Stück vorgegeben ist -, die Verkürzung am Ende: Die vier Künstler treten zu Ehren Verdis mit ihrem alten Quartett aus "Rigoletto" auf.

 

"Alt" insofern, als sie durch die selbstkritische Haltung der Sopranistin Jean dazu gebracht werden, nur mit Playback zu agieren: Sie bewegen ihre Lippen zu der Aufnahme dieses Quartetts, die schon mehrere Jahrzehnte alt ist, aber gerade neu von der Musikfirma aufgelegt wurde. Die Schauspieler treten hier in Kostümen auf. Den Kostümen nach war das mal eine "werktreue" Aufführung. Etwas angestaubt wirkend, heute. Auch etwas provinziell, was die tatsächliche nicht gewesen sein müsste. Hier bleiben die Schauspieler aber am Ende in ihren Kostümen, verwandeln sich nicht in ihre Alltagsfiguren zurück. So wie sie verkleidet sind, nehmen sie nun den Applaus des Publikums entgegen. Eine Verschränkung insofern, als das reale Publikum in den Hamburger Kammerspielen, also 'wir', hier gleichzeitig als mitspielendes Altersheim-Besucher-Publikum wirkt. Das ist ganz schön gemacht, auch mit dem Gaze-Vorhang, der der Szene etwas Schwebendes verleiht.

 

Man freut sich über eine gut gelungene Aufführung! Das ist auch schon etwas. Man soll das nicht überschätzen. Man muß nicht gleich wie die Hamburger Provinzblätter eine Sensation daraus machen wollen. Hansgünther Heyme schien mit dem Applaus und Erfolg gut zufrieden zu sein. Sein Stolzieren nach der Aufführung im Foyer machte das deutlich.

 

Das Stück von Ronald Harwood wurde im September 1999 in London uraufgeführt. Die Deutsche Erstaufführung fand 2002 in Stuttgart statt. Harwood ist aber vor allem als Drehbuch-Autor hervorgetreten, beispielsweise für den Polanski-Film "Der Pianist" (2002). Das sind nun die Stücke einer älter werdenden Bevölkerung: Stücke über das Altwerden, besetzt mit älteren oder alten Schauspielern, ein geeigneter Spiegel unserer Gegenwart. In naher Zukunft werden vielleicht Stücke mit herantanzenden und Frauen begrabschenden Arabern zu sehen sein in der Kulisse vor dem Kölner Dom. Natürlich ist das polemisch! Aber doch vor allem durch die nahtlose Folge. Hoffen wir, dass dieses Bild polemisch bleiben möge. Für alle Seiten! Hoffen wir, dass dieses Land, dass dieser Kontinent diese neue Anforderung in den Griff bekomme! Und geben wir den Neuankömmlingen, die es verdienen, eine Chance.

 

Harwoods Stück steckt in den ersten Akten voller Bosheiten, böser Anspielungen, aber auch voller Lebenslügen und Behauptungen. Der letzte Akt dagegen ist eine Art Implosion. Die Lügen und Behauptungen, die angemaßten Rollen stürzen ein, - interessanterweise genau in dem Moment, in welchem die Schauspieler sich für ihre Opern-Rollen verkleiden. Das hätte alles noch schärfer inszeniert werden können. Auch hierin mag sich noch einmal der Abstand zum Vorbild, dem Leben in der wirklichen "Casa Verdi", verdeutlichen. Und wenn wir dann all die vom Stück her möglichen künstlerischen Verschränkungen hätten verfolgen können, vielleicht wäre der Applaus dann tatsächlich "tosend" gewesen und der Regisseur ein "Altmeister" der Regie, wie es so in der Hamburger Lokalpresse heißt.

 

Aber auch nicht jeder Roman, der in den Buchkaufhäusern auf den Büchertischen liegt, ist gleich ein "Meisterwerk", auch wenn es aus Werbungsgründen auf dem Buchdeckel steht. Das selbe gilt für Filme und Filmplakate. Lassen wir uns nicht einlullen! Bleiben wir wachsam. Denn auch schon ein gelungener und sehenswerter Theaterabend ist keine Selbstverständlichkeit. Und zweifellos ist dieser Theaterabend sehnswert gelungen. Und das ist doch wohl auch schon etwas.

 

Man sollte es sich also ansehen! Vielleicht sogar noch ein zweites Mal!

 

 

INFO:

Der Schweizer Film-, Fernseh- und Opernregisseur Daniel Schmid, der schon 2006 starb, hat über die Casa Verdi 1985 einen eindrücklichen Film geschaffen: DER KUSS DER TOSCA, den Sie sich unbedingt beschaffen sollten, weil er die tatsächliche Situation der Casa Verdi hinreißend wiedergibt.