Kay Voges inszeniert „Königin Lear“ im Schauspielhaus Frankfurt

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Ein Weltreich zerbricht in Shakespeares „König Lear“ an der Teilung von Macht und Land. In Tom Lanoyes moderner Fortschreibung der Tragödie scheitert ein internationaler Familienkonzern an der Unfähigkeit und dem internen Zwist der nachfolgenden Generation.



In Shakespeares Tragödie „König Lear“ will der alternde Herrscher sein wohlbestelltes Reich unter seinen drei Töchtern aufteilen. Richtschnur für den Umfang des Erbes soll das Ausmaß an Liebe sein, welche das jeweilige Kind dem Vater entgegenbringt. Insgeheim hofft er, dass die jüngste Tochter, Cordelia, ihm den größten Liebesbeweis liefert. Doch diese gibt ihm zu verstehen, dass sie ihn so liebe, wie es sich für eine Tochter gezieme, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das erzürnt den alten König; er enterbt sie und teilt das Reich unter den beiden anderen, Goneril und Regan, gleichmäßig auf. Deren Zuwendung ihm gegenüber ist jedoch von Falschheit und Berechnung geprägt.


Als Gegenleistung verlangt er von ihnen und ihren Ehemännern, seinen Ruhestand zu finanzieren und ihm ein Heer von hundert Rittern zu seinem Schutz zu überlassen.
Lears Berater, der Graf von Kent, ergreift Partei für Cordelia, worauf ihn der König des Landes verweist. Auch Cordelia verlässt das Land und heiratet den König von Frankreich.


Kaum ist die Teilung des Reichs vollzogen, beschließen Goneril und Regan sich ihres Vaters zu entledigen. Zunächst verlangt Goneril von ihrem Vater, die Hälfte der Ritter zurückzuschicken. Als der sich wegen dieser Unbotmäßigkeit bei Regan beschwert, verlangt diese, er müsse sich von sämtlichen Rittern und Bediensteten trennen. Gonerils Diener Oswald unterstützt seine Herrin, der er sexuell hörig ist, in sklavischer Gefolgsamkeit.

Enttäuscht und verbittert verlässt Lear sein Schloss, begleitet von seinem Hofnarren und vom sich ihm inkognito anschließenden Grafen von Kent, den er nicht erkennt. Sie geraten in einen Sturm und verlieren einander. Lear irrt durch die Landschaft und verfällt allmählich dem Wahnsinn.
Cordelia, die vom Schicksal ihres Vaters erfährt, setzt mit einem französischen Heer nach Britannien über, um ihm beizustehen. Doch die Armee wird geschlagen, Cordelia gefangen genommen, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Goneril und Regan töten sich nach einer Auseinandersetzung um das Erbe gegenseitig.
Als Lear vom Ende Cordelias hört, verfällt er in Agonie und stirbt bald danach an Gram. Ob das Reich je wieder stabile Verhältnisse erfahren wird, bleibt offen.

In einem Nebenstrang agieren der Graf von Gloucester, dem die Augen ausgestochen werden, und seine Söhne Edmund und Edgar. Edmund verbündet sich mit Goneril und Regan, während sich Edgar als Mann von edlem Charakter erweist, der nach Lears Tod König Britanniens wird.

Der Belgier Tom Lanoye hat Shakespeares Stoff in die heutige Zeit transformiert. Dabei ersetzt er die Familienhierarchie eines Königshauses durch die Inhaberfamilie eines internationalen Großkonzerns. Dessen Patriarchin ist Elisabeth Lear, die nunmehr im fortgeschrittenen Alter und von Demenz gezeichnet, die Firmenanteile ihren drei Söhnen übertragen will. Umfang und wirtschaftliche Bedeutung der Erbteile sollen sich nicht an den bisherigen Leistungen der Kinder im Konzern orientieren, sondern an deren Zuneigung zur Mutter.

Cornald, der jüngste Sohn, ist Elisabeths Liebling. Der aber sieht keinen Anlass, seine Liebe zu ihr besonders herauszustellen. Zudem geht er anderen beruflichen Zielen nach; er möchte durch die Gewährung von Mikrokrediten kleine Betriebe in Indien unterstützen. Gregory, der älteste Sohn, hat bislang nur Geld zu seinen eigenen Gunsten aus der Firma abgezogen, dabei unterstützt von seiner Frau Connie. Während Gregory fachlich inkompetent und verschwenderisch ist, erschöpft sich Connies Leistung im Gebären von Kindern.
Hendrik, der mittlere Sohn, besitzt zwar deutlich mehr Geschäftssinn, aber er neigt zu gefährlichen Finanzspekulationen. Seine Frau Alma erweckt den Eindruck einer eingebildeten Kranken, auch wenn sie ihrem Mann offenbar Halt geben kann.

Mit dem Unternehmen bestens vertraut ist hingegen Robert Kent, seit Jahrzehnten  die rechte Hand sowohl von Elisabeth als auch von deren früh verstorbenem Mann. Kent unterstützt Cornald und verschafft ihm Kontakte zu Geldgebern in Asien.

Als Elisabeth klar wird, dass sie auf Cornald nicht setzen kann, enterbt sie ihn und verweist ihn des Hauses. Gregory und Hendrik fühlen sich am Ziel, erweisen sich jedoch bald als total überfordert mit den neuen beruflichen Aufgaben. Ihre Unfähigkeit ist den Mitbewerbern am Markt früh aufgefallen und so gerät das Traditionsunternehmen Lear immer mehr unter Druck, der durch falsche Entscheidungen der Brüder noch verstärkt wird. Die Firma ist faktisch konkursreif, könnte allenfalls durch eine „feindliche Übernahme“ anderer fortgeführt werden. Jedoch auch Cornald ist mit seinem Projekt gescheitert. Seine Berater haben ihm die Risiken eines Engagements in kleinste und kleine Firmen bewusst verschwiegen. Auch Kent, der bei einer heftigen körperlichen Auseinandersetzung mit Hendrik sein Augenlicht verlor, vermag nicht mehr zu helfen.

Elisabeth, die sich immer noch als Matriarchin des Lear Konzerns fühlt, fällt von einem dementen Zustand in den anderen. Sie ist nicht mehr in der Lage, die Realitäten wahrzunehmen. Oleg, ihr Pfleger und Gesellschafter, ist unentschlossen. Teils wehrt er sich gegen ihre auch körperliche Einvernahme, teils sucht er vergeblich nach Auswegen, für sie und für sich selbst.

Ähnlich wie in Shakespeares Vorlage ist das Ende ein totales und eine Zukunft für die physisch Überlebenden nicht vorstellbar. Da hilft auch nicht Elisabeths Aufbäumen gegen das Unvermeidliche - gegen das Dunkel in Ihrem Kopf und das finanzielle Chaos. Ihr Wunsch, noch einmal anfangen zu können, gemeinsam mit allen Ausgestoßenen und Opfern des Kapitalismus, erweist sich als die letzte aber unbegründete Hoffnung aller, die es aufgrund eigener Erfahrung besser wissen müssten. Das System ist nicht reformierbar, es kann nur abgelöst werden durch eines, das zumindest die Fehler des alten vermeidet.

Kay Voges reduziert seine Inszenierung auf die wesentlichen Aussagen. Er abstrahiert das Geschehen auf das konkret Sagbare und verhilft der Geschichte dadurch zu einer Wirklichkeit und Wirksamkeit, die buchstäblich unter die Haut geht. Voges hat Lanoyes Text in gekonnter Weise gerafft und ihm dadurch zu einer beispiellosen Präzision und Eindrücklichkeit verholfen.
Die mit weißen quadratischen Lichtrahmen gleichmäßig gerasterte schwarze Bühne, zunächst sehr breit, dann von Szene zu Szene immer enger werdend bis hin zu einem Tunnel, der ins Unendliche zu gehen scheint, trägt beim Zuschauer dazu bei, die Vorgänge als persönliche Botschaft erfassen zu können. Kay Voges, zu dessen Regiehandwerkszeug die Videokamera gehört, geht mit dieser vergleichsweise sparsam um, was der Aufführung gut tut.

Josefin Platt in der Titelrolle der „Königin Lear“ dokumentiert bei dieser deutschsprachigen Erstaufführung ihr Riesentalent. Sie hat das Stück fest in der Hand, was nicht nur an der Rolle liegt, sondern auch an ihrem besonderen schauspielerischen Talent.

 

Foto: (c) Birgit Hupfeld


Info:

Königin Lear
Von Tom Lanoye
Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten

Regie: Kay Voges; Bühne: Daniel Roskamp; Kostüme: Mona Ulrich; Musik: Paul Wallfisch; Video: Robi Voigt; Dramaturgie: Michael Billenkamp

Besetzung
Josefin Platt (Elisabeth Lear)
Peter Schröder (Robert Kent, Lears rechte Hand)
Viktor Tremmel (Gregory, Lears ältester Sohn)
Lukas Rüppel (Hendrik, zweitältester Sohn)
Carina Zichner (Cornald, jüngster Sohn)
Franziska Junge (Connie, Gregorys Frau)
Verena Bukal (Alma, Hendriks Frau)
Owen Peter Read (Oleg, Lears Pfleger)


Die Termine der nächsten Vorstellungen sind der 22.09., 23.09., 28.09., 29.09., 07.10., 17.10.und der 26.10. 2016.