Eine Besprechung - fragmentarisch und assoziativ wie Anne Imhofs „Angst II“


Hanswerner Kruse


Berlin (Weltexpresso) - Auf den Plakatwänden zur traditionellen ART WEEK, die in Berlin mit zahllosen Ausstellungen und performativen Darbietungen den Kunstherbst eröffnet, prangt auch groß der Name Anne Imhof. Die in Hessen geborene und lebende, aber mittlerweile weltweit agierende Künstlerin, inszeniert im Hamburger Bahnhof „Angst II“.

hre eigentlich nicht zu klassifizierende, vierstündige Performance-Oper, so die Kuratorin im Pressegespräch, widmet sich der Angst, dem beherrschenden Thema unserer Zeit. Die zahlreichen Zuschauer und ich erwarten nun eine Darbietung in wagnerianischen Dimensionen. Immerhin sind zwanzig junge Schauspieler und Performer, eine Seiltänzerin, zwei Falknerinnen mit ihren Greifvögeln und eine Handvoll Dokumentaristen angekündigt.


Während sich die leer geräumte, riesige Wartehalle des ehemaligen Bahnhofs mit Nebel füllt, fläzen sich betont cool und lässig eine Menge junger Leute auf großen Podesten links und rechts der Treppe zum Saal. Decken, Schlafsäcke, verstreute Klamotten und Essensreste suggerieren, hier wird Tag und Nacht für die Kunst gelebt. Seltsame Klänge und Geräusche füllen den dunstigen Raum. Mutige Zuschauer verschwinden bereits im Nebelschleier, nach und nach kommen auch Akteure dazu.


Mit bizarren Bewegungen begegnen sie sich, kreieren mit schemenhaften lebenden Bildern ihre eigene Realität, obwohl sie sich ansonsten nicht von Zuschauern unterscheiden. Manche tun auch gar nichts, das fördert die Vermischung. Wir Beobachter werden sowieso Material und Teil der entstehenden Tableaus, die langsam aufscheinen und ebenso langsam wieder verschwinden. Sehr viel Zeit vergeht dabei, alle Veränderungen geschehen unendlich langsam. Obwohl die Ereignisse chaotisch, beliebig und zufällig wirken, sind sie größtenteils von der Choreografin oder von ihr nach gemeinsamen Diskussionen mit den Akteuren festgelegt. Aber es gibt wohl auch Raum für spontane Aktionen. Imhof versteht sich als Malerin, die mit ihren Leuten, dem Publikum und wenigen Requisiten im Raum „Bilder malt“.


Beim Suchen der Toilette komme ich mit der Garderobiere ins Gespräch. Sie entpuppt sich als Kunstkennerin („Hier lernt man viel bei der Arbeit!“) und ist ganz traurig, weil an ihrem Arbeitsplatz nur die Musik zu hören ist. Die vielfältigen Klangfetzen und Töne hören sich so dramatisch, fremd oder geheimnisvoll an, dass sie glaubt, ungeheuerliche Bilder zu verpassen. Doch die durch die Sprechanlage des Hauses und große Verstärkertürme zu Gehör gebrachten Geräusche, sind das einzig dramatische und leidenschaftliche, sagen wir ruhig opernhafte in dieser Aufführung. Die Spielerinnen und Spieler zeigen inmitten des Publikums völlig ausdruckslos alltägliche oder leicht verschrobene Situationen - wie jemanden wegtragen und sich dann zu ihm legen oder einander zu rasieren. Als „spielbar gemachten Alltag“ diskutierte das einst bereits der Kunsthistoriker Peter Gorsen.


Es gibt nichts Dramatisches oder Angstmachendes zu erleben! Wenn Menschen weggeschleppt werden oder herumliegen, dann werden sie eben weggeschleppt oder liegen herum. Und wir schauen zu. Die dramatische oder fremdartige „Opern“-Musik illustriert oder paraphrasiert nichts, gibt den Ereignissen keine Bedeutung. Aber vielleicht enerviert sie unser Unterbewusstsein?


Es ist klare Denunziation, wenn mit moderner Kunst oder Neuer Musik wenig vertraute „Kritiker“ und Journalisten präzise das beschreiben, was sie meinen gesehen oder gehört zu haben. Etwa „im Nebel der Bahnhofshalle liefen Menschen schnell hin und her.“ In der Moderne gehört die Mitarbeit des Betrachters zum offenen Kunstwerk dazu: Was erlebt er, was fühlt er, was denkt er, was lösen die Bilder oder Klänge in ihm aus?
Die Seiltänzerin balanciert auf dem Seil, das in einigen Metern Höhe längs durch den eingenebelten Bahnhof gespannt ist. Unter ihr läuft eine Falknerin, deren Vogel an der Kette wild flattert und zieht. Wohl nicht nur für ihn ist die Welt auf den Kopf gestellt. Bei einer frei im Raum stehenden Wendeltreppe treffen sich in der Höhe im Nebel Falknerin, Vogel und Tänzerin. Es ist (mir) nicht wichtig, was das Bild bedeutet, es rührt mich an! Und es ist eines der wenigen poetischen Bilder, die es im Bahnhof an diesem Abend zu sehen gibt.


Ob der Nebel in der Halle nun die Architektur verbirgt, wie die Kuratorin meint, sei mal dahingestellt. Die Nebelmaschine verfremdet und verwandelt den Ort, schafft Traumzeiten, vermischt und schluckt die Akteure sowie ihre Gäste. Immer wieder klumpen Leute irgendwo im Raum zusammen, dann gibt es dort etwas zu sehen, man wird hineingezogen in den Nebel, in das Geschehen.


Einige Male fliegen Drohnen über die Köpfe der Zuschauer, sie haben gar nichts bedrohliches, düsen wie Kinderspielzeug einfach nur herum. Angst machen sie wirklich nicht. „Wenn ich nicht wüsste, dass das Kunst ist, würde ich gehen“, meint jemand. Bereits nach zweieinhalb Stunden feiern die übrig gebliebenen - sagen wir drei Dutzend - Zuschauer frenetisch die Akteure und ihre Spielleiterin Imhof. Im Garten des Hamburger Bahnhofs sitzen mehrere Hundert frühzeitig gegangene Gäste und genießen den letzten warmen Sommerabend. Und ich, ich hänge irgendwie dazwischen - einerseits finde ich den Abend lange Zeit sehr belanglos, andererseits gehen mir die Bilder der Menschen im Nebel nicht aus den Augen.


Aber wenn man das Tanzsehen bei Pina Bausch oder William Forsythe lernte, eindringliche Performances von Marina Abramovic erlebte, die riesigen Tableaus von Jan Fabre oder Robert Wilson sah, Helmut Lachenmanns musikalische Märchen hörte, dann kommt einem die post-postmoderne Beliebigkeit dieser Aufführung nicht sehr genial sondern allenfalls frech und mutig vor!


Die Kuratorin lächelt selig, einige, die sich für Kenner halten, lächeln wissend und viele Besucher lächeln einfach nur gequält.

 

Fotos: (c) Hanswerner Kruse

Info:
Weitere Aufführungen 15. - 18. und 22. - 25. September jeweils von 20 - 24 Uhr im Hamburger Bahnhof. Eintritt frei.


Nachschiebsel
Eigentlich wollte ich mir die Aufführung in Auszügen noch einmal ansehen, aber der  Andrang war bei der (kostenlosen) Eröffnung derartig riesig, dass ich gleich wieder verschwunden bin.