Bildschirmfoto 2021 08 29 um 22.50.32Theologische Impulse (101)

Thorsten Latzel

Rheinland (Weltexpresso) - Zu den kleinen „Alltags-Ritualen“ unserer Familie gehört das gemeinsame Ansehen der Tagesschau. Richtig „old-school-mäßig“. Kurz vor acht ruft irgendwer durch das Treppenhaus. Und alle kommen zusammen, um mitzukriegen, was an dem Tag los war, um sich darüber auszutauschen. Das hilft, gerade wenn in der Welt viel passiert, es viel zu diskutieren gibt. Unser kleines familiäres Forum.

Nun ist Nachrichten zu schauen selten erbaulich. In diesem Sommer besonders wenig. Überschwemmungen, verheerende Brände auf den verschiedenen Kontinenten. Dann der Vormarsch der Taliban, die schrecklichen Bilder vom Flughafen in Kabul. O-Ton unserer ältesten Tochter: „Wir sitzen im Himmel und schauen der Hölle zu.“

Das Wort „Katastrophe“ taucht in der Berichterstattung regelmäßig auf, bei den menschlich mitverursachten Naturphänomenen wie bei den militärisch-politischen Ereignissen. Und leicht können dabei apokalyptische Gefühle aufkommen, zumal wenn das Corona-Virus weiter mutiert und die nächste Welle kommt. Selbst die olympischen Spiele erfüllten in diesem Jahr kaum ihre ablenkende Funktion: eine kommerzialisiert-entleertes Event ohne Publikum. „Schnittchen und Spiele“. Doch was heißt es eigentlich, wenn man diesbezüglich von „Katastrophen“ spricht – und wie lässt sich geistlich mit ihnen umgehen? Drei Annäherungen, wie ich persönlich versuche, geistlich damit umzugehen:

1. Von Katastrophen sprechen wir im Allgemeinen, wenn ein Unglück so groß ist, es jedes Maß und jede Grenze überschreitet – in verschiedener Hinsicht:

– Das betrifft das objektive Ausmaß der Verwüstung, wenn etwa in den schrecklichen Schlammlawinen vor einigen Wochen mehr als 180 Menschen ums Leben kamen, kleine Bäche zu reißenden Sturzwassern wurden, Häuser mitgerissen haben und ganze Orte zerstört zurückließen. Mehr Leid, als unser kollektives Sehen und Verstehen erfassen könnte. Eine Katastrophe an sich.

– Das betrifft erst recht die Grenzen des individuellen, persönlichen Erlebens, des seelisch Verkraftbaren, wenn man selbst betroffen ist. Es widerfährt einem Menschen etwas tief Traumatisierendes, was er oder sie einfach nicht verarbeitet bekommt, was einem auch im Innern den Boden unter den Füßen wegreißt. Eine Katastrophe für mich.

– Das betrifft vor allem auch die Grenzen der Selbsthilfe-Möglichkeiten, des/der Einzelnen wie der betroffenen Gemeinschaft. Der Katastrophenfall wird ausgerufen, wenn die zuständigen Kräfte keine Chance mehr haben, es Hilfe von außen braucht. Konkret, wenn die Flut eben auch Brücken, Straßen, Strom-, Wasserversorgung zerstört hat und auch die, die man sonst um Hilfe ruft, nicht mehr helfen können.

Katastrophen als Grenzen und Maße übergreifendes Unglück: Sie machen deutlich, wie wenig wir unser eigenes Leben in der Hand haben. Wie verletzlich, vulnerabel unsere Gesellschaft ist, auch in einem hochentwickelten, reichen Land wie Deutschland. Seuchen, Fluten, Feuersbrünste: all das kannten wir lange aus anderen Zeiten oder Weltgegenden. Jetzt rückt es dichter an uns heran. Und damit auch die Erfahrung, an die Grenzen unserer eigenen Selbsthilfe-Möglichkeiten zu kommen. Vor allem, wenn der Menschen gemachte Klimawandel weiter fortschreitet und die nächste „Jahrhundert-Flut“ nicht lange auf sich warten lassen wird. In alten Kirchenliedern wird Gott oft um Bewahrung angerufen. Solche Bitten gewinnen angesichts solcher Erfahrungen eine neue Brisanz:

„Du wollest auch behüten / mich gnädig diesen Tag /
vor Teufels List und Wüten, / vor Sünden und vor Schmach, /
vor Feu’r und Wassersnot, / vor Armut und vor Schanden, /
vor Ketten und vor Banden, / vor bösem, schnellem Tod.“ (EG 443,3)

Unsere Kinder wachsen damit auf, dass es nicht selbstverständlich ist, „normal“ zu leben. Die Kruste unseres heilen Lebens ist dünn, allzu dünn geworden.

2. Der Begriff „Katastrophe“ stammt aus dem Griechischen und meint ursprünglich eine „Umkehrung“ oder sprachlich noch genauer: eine „Wendung nach unten“. In der antiken Tragödie bezeichnet er den plötzlichen Wendepunkt im Schicksal des Helden oder der Heldin (Peripetie), von dem ab das Unglück seinen Lauf nimmt. „Katastrophen“ in diesem klassischen, tragischen Verständnis sind meist Folgen menschlichen Fehlverhaltens und sollen idealerweise eine reinigende, „kathartische“ Wirkung haben. Für die Held-/innen wie für die Zuschauenden. Doch welche Läuterung geschieht eigentlich, wenn wir massenmedial die Katastrophen mitverfolgen? Hilfs- und Spendenbereitschaft? Ja, das ist sicher gut. Aber dann? Und was bedeutet es, wenn das Unglück eben nicht einfach die Verursacher trifft, sondern das Leid der einen mit dem Konsumverhalten von vielen zusammenhängt?

Bei einem meiner Gespräche in den überfluteten Gebieten sagte ein Presbyter den eindrücklichen Satz: „Leute mit sauberer Kleidung sind uns hier suspekt.“ Diese katastrophale Flut hat etwas mit Menschen gemacht, den Betroffenen, den Helfenden, den vielen Menschen, die mit ihnen mitgelitten haben. Die Flut hat etwas zerstört, auch innerlich. Auch bei mir. „Nach der Flut“ kann und darf es keine „Weiße-Kragen-Theologie“ mehr geben, in der wir „über“ Klimawandel, Krisen, Katastrophen reden. All das trägt jetzt Namen und Gesichter von Angehörigen, Freunden, Kollegen. Wir brauchen nach der Katastrophe eine kathartische, reinigende Theologie. Eine, die uns von irrigen Selbstbildern und Lebenszielen befreit. Die uns freisetzt, das, was wir schon längst als richtig erkannt haben, auch zu leben. Eine „transformative Spiritualität“ (U. Schneidewind). Oder in den vier programmatischen kurzen ersten Sätzen des Wanderpredigers aus Nazareth: „Die Zeit ist erfüllt. Das Reich Gottes ist nahe. Ändert euren Sinn. Und glaubt an das Evangelium.“ (Mk 1,15) Eine Katharsis hier nicht aus der „Wendung nach unten“ (Katastrophe), sondern einer „Wendung nach oben“: sich bestimmt sein lassen von der unbedingten Gegenwart Gottes in Jesus Christus. Das ist für mich jetzt unsere Aufgabe als Kirche: so von dieser Gegenwart Gottes zu reden, dass es uns selbst und andere frei macht, so zu leben, wie wir es schon längst als richtig erkannt haben: anti-katastrophisch, nach oben gewandt.

3. Wenn gegenwärtig viel und oft von Katastrophen geredet wird, sagt das allerdings auch etwas über unsere kollektive Wahrnehmung aus. Eine Neigung zum „Katastrophisieren“, das fatale Fokussiert-Sein auf den Untergang. In der Psychologie wird damit eine kognitive Verzerrung bezeichnet, die das Unglück maximiert und die eigenen Möglichkeiten minimiert. „Das wird immer schlimmer werden. Ganz gleich, was wir tun.“ Die nächste Verschwörungstheorie lässt dann nicht lang auf sich warten. Solches apokalyptisches Denken ist aber zutiefst unchristlich. Mit der Theologin Dorothee Sölle gesprochen: „‚Da kann man nichts machen‘, ist der gottloseste aller Sätze.“ Eben weil der Satz der Botschaft Jesu von der Gegenwart Gottes und dem Wandel des Menschen grundlegend widerspricht. Deshalb ist es wichtig, gerade in Zeiten schlimmer Katastrophen nicht zu katastrophisieren. Und den entsprechend selbstverliebten Unheilspropheten nicht nachzulaufen.

Viele der biblischen Texte sind in katastrophalen Zeiten entstanden – im Alten Testament in der Zeit des Exils, als der Tempel zerstört, das Land verwüstet, das Volk deportiert war. Im Neuen Testament nach dem Tod Jesu, dem Ausbleiben seiner Wiederkunft, der Verfolgung von außen. Gerade in diesen katastrophalen Zeiten entstanden Gegengeschichten, die davon handeln, dass Gott sein Volk Israel und seine Welt nicht im Stich lässt, allen verheerenden Erfahrungen zum Trotz. Dieser Hintergrund hilft uns, den tröstenden und ermutigenden Charakter mancher Texte für uns neu zu verstehen.

„Die Schöpfung Gottes“- in katastrophaler Zeit
1. Tag: Gott schafft uns Zeit, den Wechsel von Tag und Nacht. Gott ist Herr über Licht und Finsternis, beides steht in seiner Hand und gehört zu seiner Schöpfung.

2. Tag: Gott hält uns Raum frei. Er gründet das Firmament, um die Wasser zurückzuhalten. Gott setzt den Chaos-Kräften eine Grenze.

3. Tag: Gott schenkt uns eine Lebensgrundlage: festes Land und Pflanzen, um davon zu leben.

4. Tag: Gott lässt uns Sonne, Mond und Sterne scheinen – und er entmachtet so die Astralgottheiten der damaligen Siegermächte. Es sind Lampions, die uns des Tags und des Nachts scheinen sollen.

5. Tag: Gott schafft für uns Tiere als Mitgeschöpfe im Wasser und in der Luft. Fische, die in den Fluten spielen, und Vögel, die in den Lüften tanzen. Alles, um sich daran zu freuen.

6. Tag: Gott schafft für uns Tiere als Mitgeschöpfe auf dem Land. Und er schafft uns selbst – damit wir für die anderen, für seine Schöpfung da sein können. Damit wir das „Seufzen der anderen Kreaturen“ hören und als Erstgeborene der neuen Schöpfung anders leben.

7. Tag: Und Gott schafft uns Ruhe – indem er selber ruht und uns in der Stille begegnet.

Es ist an der Zeit, dass wir anfangen, die alten Texte neu zu lesen und anderen davon zu erzählen. Allen Katastrophen zum Trotz.

Foto:
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Info:
Thorsten Latzel , früher Frankfurt, ist seit 20. März Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland
Weitere Texte: www.glauben-denken.de