Tetsuya 9478Ein Japaner in Steinau

Hanswerner Kruse

Steinau a.d. Straße (Weltexpresso) - Was macht ein junger Japaner in Steinau, der in seinem bisherigen Leben mit Deutschland, ja mit Europa nichts zu tun hatte? Die Antwort: Orthopädische Fußbekleidung auf hohem ästhetischen Niveau.

Nicht Siebenmeilenstiefel, sondern orthopädische Schuhe führten den 28-jährigen Tetsuya Yamaoka in die Märchenstadt Steinau. Doch trägt er die Schuhe nicht selbst, sondern geht in der Grimmstadt seit einem Jahr einer Lehre als Orthopädie-Schuhmacher nach. Doch zunächst lernte er ein halbes Jahr lang die deutsche Sprache in Heidelberg. Und er fährt weiterhin wöchentlich nach Fulda zum Deutschlernen. Ob er Heimweh hat? Das Wort „Heimweh“ muss er pantomimisch erklärt bekommen.

Und seine Anwesenheit in der Märchenstadt? „Was sind Märchen?“, fragt der 28-Jährige. Die Erklärung erfolgt am Beispiel von „Aschenputtel“, schließlich ist dies ja in gewisser Weise ein orthopädisches Märchen: Schuhe passen nicht. Zehen werden abgehackt. „Ruckedigu – Blut ist im Schuh.“ Die beiden leiblichen Töchter von Aschenputtels böser Stiefmutter finden so zwar keinen Prinzen, bräuchten nun aber orthopädisches Schuhwerk.

Um auf die Frage, was ihn nach Steinau führte, zurück- zukommen: Ein ehemaliger Kollege seiner neuen Chefin, Anastasia Anastasiadou, wanderte nach Nippon aus. Für den dortigen Fachverband hielt er Kontakt mit ihr in der Grimmstadt. Und Anastasiadou bot mehrfach kunsthandwerkliche Workshops zum Thema „Design, Innovation und Umsetzung“ in Japan an. Die Verknüpfung von Orthopädie mit ästhetischer Schusterei ist in Japan kaum entwickelt. Für diesen Aspekt ihrer Arbeit bietet Anastasiadou auchOnline-Seminare in den USA und Australien an. Und nach so einem Workshop bewarb sich Tetsuya bei ihr. Er beherrscht bereits das Lederhandwerk: Stolz zeigt er im Pressegespräch seine selbst hergestellten Treter. Ein Paar mit Lego-Muster – ja, Lego kennt man auch in Japan – präsentiert er auf seinem Smartphone. Doch Orthopädie-Schuhmacher ist in Japan kein anerkannter Beruf.

Der junge Mann ist glücklich mit seiner Lehre, auf die er sich voll konzentriert. „Sie erfüllt mein Leben“, sagt er. Er wohnt allein in Steinau, was ihn nicht stört: „Ich habe keine traurig“, sagt er im Trapattoni-Deutsch. Er pflegt viele Smartphone-Kontakte, abends kocht er japanisch, am liebsten Karaage (Huhn mit asiatischen Gewürzen), hört japanische Pop-Musik und liest Mangas. Mit seinem Freund Max geht er in Frankfurt nach dem Besuch der Berufsschule in Kneipen. Er trinkt sehr gerne deutsches Bier, was er aber nicht gut verträgt; er schwitzt dann immer heftig, wie er erzählt. Einsam ist er nicht, denn durch die Ausbildung bekommt er viele Kontakte mit anderen jungen Leuten – Praktikanten, einer weiteren Auszubildenden und einer Gesellin.

Mit seiner Chefin essen zu gehen, das war für ihn ein kleiner Kulturschock. Ebenso wie der Zustand in der Berufsschule, in der alle ohne Schuluniform (scheinbar) machen können, was sie wollen. Oder junge Mädchen, die öffentlich Alkohol trinken.

„Er ist ein Perfektionist“, sagt seine Chefin, die voll des Lobes für ihren Lehrling ist. Als er eine Tasche reparierte, nahm er diese vollständig auseinander, beseitigte den Schaden am Leder und fügte sie wieder korrekt zusammen. Sonst hätte man doch die Reparatur gesehen, erklärte er. Heute muss er übrigens zum ersten Mal Kunden empfangen und mit ihnen reden. Bisher werkelte er eher im Hintergrund.

Nach der Ausbildung möchte Tetsuya in Steinau bleiben und selbst Meister werden. Er freut sich auf die Japanerin, die im nächsten Jahr auch eine Lehre als Orthodädie-Schuhmacherin in Steinau beginnen wird. „Japaner sind sehr zuverlässig, gewissenhaft und fleißig“, meint Anastasiadou. „Aber sie sind nicht besonders kreativ. Aber gerade das können sie gut bei uns lernen.“

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