Bildschirmfoto 2018 10 21 um 09.31.50In seiner Rede vor der Knesset gab Premierminister Binyamin Netanyahu vor allem altbekannte Parolen von sich

Jacques Ungar

Tel Aviv (Weltexpresso) - Die Wintersession in der Knesset ist eröffnet, Premier Binyamin Netanyahu enttäuschte breite Kreise mit seiner aus Floskeln bestehenden Rede.

Himmelhoch jauchzend und abgrundtief enttäuscht. Dieses leicht modifizierte Zitat eines bekannten geflügelten Wortes charakterisiert wohl am treffendsten den Stimmungswandel in der israelischen Öffentlichkeit, wie er sich am Montag wenige Stunden vor der Eröffnung der Wintersession der Knesset präsentiert hatte. Vor seinem Auftritt vor dem Plenum baute Premierminister Binyamin Netanyahu, wie er es gerne zu tun pflegt, einen hohen Erwartungshorizont auf. Der Regierungschef twitterte nämlich, er sei dabei, eine «interessante Rede» zu halten. Entsprechend enttäuscht waren anschliessend die Medien und die politische Elite. Vom Knessetpodium offerierten sich ihnen nämlich, wie «Haaretz» schrieb, die gleichen alten Tricks von Netanyahu. Und dieses Mal waren die Tricks laut «Haaretz» noch abgegriffener als bisher. Die Schlagzeilen wie etwa «kein gestohlenes, sondern ein goldenes Land» waren schwach. Der Eigenruhm («Welch ein wunderbares Jahrzehnt!») war abgedroschen, und das Klagelied über die Medien, welche die Freiheit der Ausdruckweise untergraben würden, war wohl zum tausendsten Mal aufgewärmt worden.


Leere Versprechungen

Die Rede war auch die spektakuläre Demonstration einer Unverschämtheit von jenem Mann, der der Bestechung in zwei Fällen verdächtigt wird. Beide Male dreht es sich um vermeintlich kriminelle Interventionen in den Medienmarkt. Der Gipfel der Chuzpa wird dort erreicht, wenn ein Mann sich zu Wort meldet, der in der Vergangenheit versucht hat, zwei Medien zu zerstören – den TV-Kanal 10 und die öffentliche Rundfunkgesellschaft. In seiner ganzen Rede erwähnte Netanyahu «vorgezogene Wahlen» kein einziges Mal. Yossi Verter von «Haaretz» meinte dazu aber: «Das heisst noch lange nicht, dass er Mitte November, wenn die Entscheidungen bei den Bürgermeisterwahlen hinter uns liegen, die Knesset nicht unter diesem oder jenem Vorwand auflösen wird.» Abwarten und Tee trinken, und vor allem sich nicht von leeren Versprechungen einlullen lassen. Eines muss man Netanyahu lassen: Durch geschicktes Taktieren, nicht selten am Rande der Legalität, wird er auch bei vorgezogenen Wahlen seine «normale» vierjährige Kadenz fast ganz ausgesessen haben – keine schlechte Leistung, wenn man Charakter und Persönlichkeit des Mannes in Betracht zieht, der dieser Kadenz vorsteht. Seien wir aber auch ehrlich, was Netanyahus politisches Gewicht betrifft. Ausser im Fall eines Kriegsausbruchs mit israelischer Beteiligung hat das Kabinett Netanyahu an seiner heutigen Stelle nicht wirklich viel mehr zu erledigen.


Harsche Kritik

Kehren wir zurück zur Eröffnung der Wintersession, die geprägt war von überdurchschnittlich vielen Zwischenrufen und nicht wenigen Ausschlüssen. Oppositionschefin Tzippi Livni (Zionistische Union) verlieh ihrer Hoffnung Ausdruck, dass die jetzige Knessetsession die letzte sei, in der Netanyahu Premierminister ist. Das sei keine persönliche Angelegenheit, versicherte Livni, sondern eine nationale. Schwacher Trost für den Premier, der sich anschliessend von der Oppositionschefin folgendes «Kompliment» im Zusammenhang mit den Untersuchungen anhören musste: «Anstelle auf strafrechtliche Entscheidungen zu warten, unterbreite ich eine öffentliche Anklage.» Sie beschuldige die gegenwärtige Regierung, alle Institutionen vernichten zu wollen, welche die Demokratie beschützten. Zudem würde sie Präferenzen zeigen für extremistische Rabbiner, würde die Korruption legitimieren und «uns zur Annexion führen und einem Land mit einer muslimischen Mehrheit und einer Regierung, welche die Unabhängigkeitserklärung in Stücke reissen will».


Ein Seilziehen

Der Tradition folgend, erhielt auch Israels Staatspräsident an der Sondersitzung das Wort. Reuven Rivlin tat sich sichtlich nicht leicht. Er mahnte zu bedenken, welche Richtung Israel einschlagen solle. Jeder wolle Israel formen, meinte Rivlin. Dabei gerate die Flagge in Gefahr, auseinandergerissen zu werden. «Uns alle kümmert es», sagte der Präsident, «doch alle verfehlen wir die bittere Lektion: Ein Sieg in einem Krieg zwischen Brüdern bedeutet den Verlust des Existenzkriegs. Mehr als die nukleare Bedrohung, mehr als Terrorismus, mehr als unsere Feinde, die uns vernichten wollen, wird die Gefahr eines internen Kriegs stets unsere grösste Gefahr bleiben.» Ob die Massen die weisen Worte ihres Präsidenten überhaupt verstehen beziehungsweise verstehen wollen?

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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 19. Oktober 2018