a kurtaltEin Zeitzeuge über den letzten Tag des Auschwitz-Prozesses im Bürgerhaus Gallus

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) – Dieser 19. August des Jahres 1965 ist ein Tag wie jeder andere auch. Durch die Riesenstadt wälzt sich der Verkehr, Autoschlangen stauen sich an den Ampeln, Trambahnen schieben sich durch das Gewühl, auf den Gehsteigen hasten die Menschen zur Arbeit und auf dem Schulhof neben dem Bürgerhaus Gallus lärmen vor Unterrichtsbeginn die Kinder. Und doch ist das ein besonderer Tag, denn inmitten dieser Stadt wird heute das Urteil in einem Verfahren verkündet, das in der Geschichte ohne Beispiel ist – der Auschwitz-Prozess.

Die Vorhänge an den großen Fenstern des Verhandlungssaales sind zugezogen, so als störe das Tageslicht an diesem Morgen, da die Weltöffentlichkeit erfahren soll, welche Strafe auf die verbliebenen 20 Angeklagten wartet. Kalter Schein aus Neonröhren erhellt die Szenerie. Auf der Pressetribüne drängen sich Journalisten aus vielen Ländern. Eine gespannte, nervöse Atmosphäre breitet sich aus.

Die Angeklagten werden hereingeführt; als erster wie immer der hinkende frühere Arrestverwalter im Todesblock 11, Bruno Schlage. Der „schwarze Tod“ von Auschwitz, Wilhelm Boger, trägt wie immer den Anflug eines Lächelns im harten Gesicht, während er sich auf seinem Platz niederlässt. Es reicht noch zu einem kurzen Gespräch mit den Verteidigern, dann betreten die Richter den Saal. Die Anwesenden erheben sich und wie an 181 Tagen davor hören sie aus dem Mund des Gerichtsvorsitzenden Hofmeyer die beiden Sätze: „Die Sitzung des Schwurgerichts bei dem Landgericht in Frankfurt am Main ist eröffnet. Zum Aufruf kommt die Strafsache gegen Mulka und andere.“

Doch Sekunden spätrer ist alles anders. Bleischwer lastet die Stille vor den nächsten Worten in dem großen Raum. „Es wird folgendes Urteil verkündet: Im Namen des Volkes . . .“. Als erster hört Robert Mulka; dass er für schuldig befunden wurde und zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt wird. Mit brüchiger Stimme, der man die nervliche Belastung anmerkt, verliest Hofmeyer das Strafmaß für die 19 anderen Angeklagten. Unterdessen stürzen die ersten Journalisten aus dem Saal hinaus an die Telefone und Fernschreiber, um ihren Redaktionen die ersten Informationen zu übermitteln. Wenig später kündigen bei Rundfunkstationen und Zeitungen Klingelzeichen an den Fernschreibern Vorrang- und Eilmeldungen an.

Sechsmal lebenslanges Zuchthaus, elfmal begrenzte Freiheitsstrafen und dreimal Freispruch – das ist in dürren Worten die Bilanz dieses Prozesses. Ausführlich setzte sich der Vorsitzende im Verlauf der Urteilsbegründung mit dem Einwand auseinander, dass hier nur die „kleinen Leute“ vor Gericht gestanden hätten. Auch sie seien damals nötig gewesen, um den Plan der Vernichtung von Menschen auszuführen. Sie seien so nötig gewesen wie die Großen, die das Gesamtgeschehen eingeleitet und vom Schreibtisch aus kontrolliert hätten. Den Angeklagten warf er vor, nichts zur Erforschung der Wahrheit beigetragen, sondern geschwiegen und zum Teil die Unwahrheit gesagt zu haben.

Die Angesprochenen nahmen das Urteil ohne Zeichen einer Gemütsregung entgegen. Nur zwei ließen in ihrem Schlusswort einen Schimmer von Reue erkennen. Alle anderen verloren weder ein Wort des Bedauerns für die Opfer, noch gaben sie ein einziges Verbrechen zu. Die meisten zeigten nur Mitleid mit sich selbst. Der Angeklagte Boger kehrte den strammen Antikommunisten hervor und versicherte, im Mittelpunkt seiner Bestrebungen habe die Bekämpfung der polnischen Widerstandsbewegung und des Bolschewismus gestanden.

Mein Bericht vom letzten Tag des Auschwitz-Prozesses endet mit einem Zitat aus der Zeitung der deutschen Metallarbeitergewerkschaft. Darin hieß es, der Auschwitz-Prozess habe Millionen zum Nachdenken gebracht, aber noch immer säßen „im Staats- und Polizeiapparat, in der Justiz und in jenen Konzernen, die in Auschwitz an den Arbeitssklaven verdienten, die eigentlichen Drahtzieher, die Stützen eines Systems, das im Auschwitz-Prozess – leider - nicht auf die Anklagebank gesetzt werden konnte“.

Foto:
Kurt Nelhiebel an seinem Schreibtisch beim Verfassen dessen, was er fortlaufend über den Auschwitzprozeß schrieb 
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Info:
Weltexpresso hatte in den Artikeln zur Benennung des großen Saales des Bürgerhauses Gallus, in dem der erste Auschwitzprozeß stattfand, als FRITZ-BAUER-SAAL am 7. März des Jahres darauf verwiesen, daß unser Autor Kurt Nelhiebel einer der Zeitzeugen ist, denn er hatte als Korrespondent für eine Wiener Zeitung vom Auschwitzprozeß berichtet. Hier, was er in "Asche auf vereisten Wegen", PapyRossa Verlag Köln, 2015, 2.Auflage als Conrad Taler dazu äußerte.

Bisherige Artikel zur Benennung
https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/15498-nachgetragene-liebe
https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/15496-grosser-saal-im-saalbau-gallus-heisst-jetzt-fritz-bauer-saal