deutschlandfunk.de berlinEin Nachwort zu den Geschehnissen in Berlin vom Wochenende

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso ) - Wie soll man sich erklären, dass intelligente Menschen Seite an Seite mit Rechtsextremisten ihren Ärger über die Corona-Beschränkungen abreagieren? Sitzt der Unmut über die Maßnahmen der Bundesregierung zu Eindämmung der Pandemie so tief, dass ihnen die anrüchige Nachbarschaft egal ist?

Hätte es die verstörenden Bilder der Ewiggestrigen mit ihren Schwarz-Weiß-Roten Fahnen auf den Stufen des Reichstagsgebäudes nicht gegeben, wenn dort mehr Polizisten gestanden hätten? Hat das Oberverwaltungsgericht, das dem Geschehen vom Wochenende den Weg ebnete, die  Beweggründe der örtlichen Polizeibehörde für das Verbot der Kundgebung für nicht ausreichend gehalten, weil es die großzügige Karlsruher Rechsprechung in Sachen Meinungs- und Versammlungsfreiheit kennt und nicht Gefahr laufen wollte, vor dem Bundesverfassungsgericht rechtlich zu scheitern?

Der Polizeipräsident in Berlin hatte die als „Fest für Frieden und Freiheit“ angemeldete Versammlung unter Hinweis auf die Gefahren, die durch ein deutlich erhöhtes Infektionsrisiko für die körperliche Unversehrtheit anderer entstünden, verboten. Das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht verneinten eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Ihrer Darstellung nach war nicht zu erkennen, dass das Abstandsgebot missachtet werden würde, und das Tragen einer Nase-Mund-Bedeckung sei ohnedies nur „erforderlichenfalls“ notwendig.

Dass sich die Kundgebung zu einer politischen Provokation auswachsen könnte, haben beide Gerichte nicht in Erwägung gezogen, jedenfalls steht nichts davon in ihren entsprechenden Beschlüssen. In einer ähnlichen Situation hatte Karlsruhe in einem Eilrechtsverfahren auf Verlangen der neonazistischen NPD das von der örtlichen Polizeibehörde verhängte und vom zuständigen Oberwaltungsgericht bestätigte Verbot einer Protestkundgebung gegen den Bau einer Synagoge in Bochum aufgehoben.

So geschehen am 23. Juni 2004 durch einen Beschluss des Ersten Senats unter Leitung des damaligen Gerichtspräsidenten Hans-Jürgen Papier. Das Oberverwaltungsgericht gehe davon aus, heißt es eingangs in dem Beschluss mit dem Aktenzeichen 1 BvQ 19/04, dass Versammlungen mit demonstrativen Äußerungen neonazistischer Meinungsinhalte zum Schutz der öffentlichen Ordnung verboten werden können. Auf diese Rechtsauffassung könne das Verbot einer Versammlung aber nicht gestützt werden, da die Gesetze das Tatbestandsmerkmal der öffentlichen Ordnung nicht vorsähen. Wörtlich wird weiter ausgeführt:

„Das Grundrecht der Meinungsfreiheit ist ein Recht auch zum Schutz von Minderheiten; seine Ausübung darf nicht allgemein und ohne eine tatbestandliche Eingrenzung, die mit dem Schutzzweck des Grundrechts übereinstimmt, unter den Vorbehalt gestellt werden, dass die geäußerten Meinungsinhalte herrschenden sozialen oder ethischen Auffassungen nicht widersprechen“ Im vorliegenden Fall hieß das, eine Protestversammlung gegen die Absicht,  an die Stelle einer von den Nazis niedergebrannten Synagoge eine neue zu setzen, müsse hingenommen werden, obwohl sich die Überlebenden des Massenmordes an den Juden zu Recht in ihrer Menschenwürde verletzt fühlen mussten.

Dafür sind nach Meinung Karlsruhes die Strafgesetze da. Meinungsäußerungen dürften nur dann beschränkt werden, wenn sie zugleich sonstige Rechtsgüter – etwa die Menschenwürde oder das allgemeine Persönlichkeitsrecht – verletzten. Würden Strafgesetze durch Meinungsäußerungen missachtet, so liege darin auch eine Verletzung der öffentlichen Sicherheit, der die Behörden mit dem Versammlungsrecht entgegentreten könnten. Das Verbot einer Versammlung wegen ihres Inhalts kann nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht darauf gestützt werden, dass das Grundgesetz sich angesichts der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus für eine wehrhafte Demokratie entschieden habe.

Langer Rede kurzer Sinn – die NPD durfte die Kundgebung gegen den Bau einer Synagoge in Bochum abhalten, die betroffenen jüdischen Bürger und alle, die sich ihnen verbunden fühlen,  hatten das Nachsehen. Sechzehn Jahre danach erstürmten jetzt Neonazis mit Schwarz-Weiß-Roten Fahnen die Stufen des Reichstagsgebäudes in Berlin und ein entsetzter Bundespräsident warnte wieder einmal vor den Gefahren des Rechtsextremismus, der tief reichende Wurzeln in unsere Gesellschaft habe und eine ernste Gefahr sei.

Na denn – bis zum nächsten Mal.

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