Baumarkt Schilder 72 dpiDas Corona-Ausstiegsszenario kam auf Druck der Wirtschaft zustande

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ein Bildmotiv geistert durch die Presse. Es zeigt einen wieder eröffneten Baumarkt in Hessen, der vor Warnschildern nahezu überquillt.

Bei genauerem Hinsehen entlarvt es die Hygiene-Konzepte, die von Vertretern der Wirtschaft, insbesondere des Einzelhandels und der Gastronomie, in inflationärer Weise beschworen werden und mit denen sie eine Lockerung, gar ein Ende des Lockdowns, fordern. „Mindestabstand 2 m. Bitte max. 10 Kunden gleichzeitig in diesem Gang“ lautet eines der Hinweisschilder. Oder „Achtung, max. 10 Personen. Bitte einzeln eintreten und auf Abstand achten“.

Doch wie sollen Kunden feststellen, ob sich bereits 10 Personen in einem jeweiligen Gang befinden? Selbst wer bis zehn zählen kann, ist kaum dazu in der Lage, einen Verkaufsraum, dessen Wände mit Warenregalen vollgestellt sind, völlig zu übersehen. Es existiert in der Regel auch keine Anlage, welche die Besucher erfasst und neu Eintretenden entweder „grün“ oder „rot“ signalisiert. Ebenso scheint ein seitlicher Mindestabstand bei einer Gangbreite von geschätzten 2,50 m bis maximal 3 Metern nicht praktizierbar zu sein. Wenn sich zwei Menschen von einer jeweiligen Körperbreite von 60 cm begegnen und 2 Meter Abstand zueinander einhalten müssen, ist eine Mindestbreite von 3,20 erforderlich. Darum wäre es richtiger, dass Gänge nur in eine Richtung beschritten werden können.
Und überhaupt: Wie sieht es mit einer getrennten Be- und Entlüftung aus? Baumärkte und viele Discounter-Filialen sind häufig in Hallen untergebracht, die lediglich über eine spartanische Haustechnik verfügen. Nicht selten wird die Luft lediglich umgewälzt, aber nicht ausgetauscht. Fazit: Covid-haltige Aerosole können sich uneingeschränkt verbreiten.

Gemessen an der biederen, wenn auch selten zielführenden Strategie einiger Baumärkte steuert die Thalia-Buchhandelsgruppe einen besonders skandalösen Höhepunkt zur Öffnungsdebatte bei. Darin offenbart sie die typische Fratze des nimmersatten Neoliberalismus, der bereit ist, gesellschaftliche Tabus und Gesetze bewusst zu brechen. Das politische Magazin „Frontal 21“ des ZDF veröffentlichte den Mitschnitt einer internen Thalia-Mitarbeiterversammlung, die am 1. März auf der Plattform „Vimeo“ zu sehen war. Thalia-Chef Michael Busch hatte sich darin an die ca. 600 Mitarbeiter des Filialunternehmens gewandt. Er gab bekannt, dass er gemeinsam mit anderen Geschäftsführern bzw. Vorständen größerer Unternehmen im Gespräch mit mehreren Ministern stehe. Sie alle wollten Bundesregierung und Länderregierungen zur Öffnung der Buchhandlungen drängen. Sollte das nicht zum Erfolg führen, wolle er eine „Social-Media“-Kampagne starten und damit in den laufenden Wahlkampf aktiv eingreifen. Damit meinte er vermutlich Facebook, Instagram, WhatsApp & Co, also die Foren der Einfältigen, Unbelehrbaren und Rechtsextremisten.
„Da haben die am meisten Schiss vor. Das können die gerne als Drohung nehmen“, polterte Busch. Er sehe sich gezwungen, zu solchen Maßnahmen zu greifen, weil die Politik die Unternehmen „mit dem Rücken gegen die Wand gedrängt“ habe und „es nicht auf die Kette bekomme“. 10.000 Stimmen von Mitarbeitern oder Kunden könnten bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg den Ausschlag geben. Wörtlich: „Wenn ihr nicht für die Öffnung entscheidet, dann werden wir euch nicht wählen. Fünf- oder Zehntausend Leute, die in die andere Richtung wählen, die können die Wahl jetzt drehen.“

Einem Politiker habe er im Zusammenhang mit Schnelltests vor Ort gesagt: Stellen Sie sich vor, unsere Mitarbeiter "popeln Kunden in der Nase rum". Das Thema werde "wie die Sau durchs Dorf getrieben" allerdings auf eine Art und Weise "wo ein Politiker manchmal nicht weiterdenkt, als ein Schwein scheißt".

In der Sendung „Hart aber Fair“, die am letzten Montagabend ausgestrahlt wurde, gab sich Busch etwas zurückhaltender. Bekannte sich aber ausdrücklich dazu, in einem Offenen Brief weitgehende Öffnungsperspektiven für den Handel gefordert zu haben.

Bislang hatten Thalia und dessen Geschäftsleitung vor allem dadurch Schlagzeilen gemacht, weil das Unternehmen aus der Tarifbindung ausgestiegen war. Um seine Expansionspläne finanzieren zu können, werden die Mitarbeiter schlechter bezahlt. Die ohnehin nicht üppige Gehaltsstruktur im Sortimentsbuchhandel ist Michael Busch und ähnlichen Managern noch nicht tief genug. Vor etwas über einem Jahr wurde bekannt, dass Thalia von Verlagen eine Gebühr für die Aufnahme von Titeln in das Bestandslager verlangt. Das verstößt eindeutig gegen das Preisbindungsgesetz, das sowohl feste Ladenpreise für Bücher als auch in der Höhe begrenzte Konditionen für Großabnehmer (Grossisten, Buchhandelsketten) vorschreibt. Es soll Verleger geben, die sich darauf eingelassen haben. Mutmaßlich sind es jene, die mangels fachlichem Know-how ständig literarischen Schrott produzieren und diesen mit sämtlichen Marketingtricks an jeder Ecke platzieren wollen.

Falls es zutrifft, dass sich Bundesregierung und Länderregierungen von Firmen wie Thalia unter Druck setzen lassen und dabei die Gesundheit der Bevölkerung aufs Spiel setzen, müssten jetzt sämtliche Alarmglocken läuten. Es hat ohnehin den Anschein, dass die Corona-Pandemie längst eine zusätzliche Seuche hervorgebracht hat. Nämlich eine, die den Verstand befällt und ethische Grundsätze über Bord wirft.

Foto:
Baumarkt-Schilder
© M-RG

Info:
Corona-Beschluss der Bundesregierung vom 3. März 21
© Bundesregierung
Bildschirmfoto 2021 03 08 um 17.47.21