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Kategorie: Zeitgeschehen
Kurt Nelhiebel.jpgkpmKurt Nelhiebel zum 95. Geburtstag

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main – Er zählt zu jenen Persönlichkeiten, die mein kritisches politisches Bewusstsein schärften.

Steht in einer Reihe neben dem SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein, dem Philosophen Nikolaus Koch, dem Juristen Heinrich Hannover, dem Theologen Gerhard Niemöller und dem Soziologen Theodor Ebert. Die Rede ist von Kurt Nelhiebel. Im Gegensatz zu den Vorgenannten bin ich Nelhiebel nie persönlich begegnet, habe ihn sogar erst vergleichsweise spät zur Kenntnis genommen, aber dann seine Bücher und Aufsätze geradezu aufgesogen. Im Zuge meiner redaktionellen Arbeit für das Online-Magazin „Weltexpresso“, deren Stammautor er ist, pflegen wir gelegentlichen E-Mail-Kontakt. Kurt Nelhiebel ist für mich zu einer ergiebigen und unverdächtigen Quelle geworden. Insbesondere über die restaurativen Vorgänge in der Bundesrepublik, die zu überwinden auch den 68ern, denen ich mich zurechne, nur im Ansatz gelang. Jedoch auch zu Skandalen der unmittelbaren Gegenwart. Und generell als überaus sachkundiger und inspirierender Journalist.

Ich habe mich bereits als älterer Schüler politisiert. Ab dem Jahr 1967 beteiligte ich mich an den Treffen von Engagierten aus der regionalen Friedensbewegung des Ruhrgebiets im „Haus Bommern“ in Witten (Ruhr), zu denen Nikolaus Koch (mein künftiger Philosophiedozent an der Pädagogischen Hochschule Dortmund) Kriegsdienstverweigerer, antidogmatische Linke und progressive Christen einlud. Mein ehemaliger Latein- und Religionslehrer Gerhard Niemöller, ein Neffe des Theologen und hessen-nassauischen Kirchenpräsidenten Martin Niemöller, hatte mir den Kontakt zu Koch ans Herz gelegt.

Das Damoklesschwert eines Atomkriegs, das über der in Ost und West geteilten Welt am dünnen Faden hing, war auch verbunden mit der repressiven antikommunistischen Innenpolitik der Bundesrepublik. Nikolaus Koch sprach vom „CDU- und Adenauer-Staat“ und lobte rückblickend die antikapitalistischen Ansätze des „Ahlener Programms“ der CDU (über das er auch mit seinem Freund, Ruhrbischof Franz Hengsbach, regelmäßig diskutierte), hielt die bereits nicht mehr existierende „Gesamtdeutsche Volkspartei“ von Gustav Heinemann und Johannes Rau für eine ungenutzte Chance (sie war schließlich in der SPD aufgegangen, die nichts daraus machte) und bedauerte den Dogmatismus der westdeutschen FDJ und der KPD (beide wurden auf Antrag der Bundesregierung 1956 vom Bundesverfassungsgericht verboten), die sich als ernstzunehmende Opposition selbst disqualifiziert hätten.
In diesem Kreis kursierte das seinerzeit neu erschienene Buch von Heinrich Hannover und Elisabeth Hannover-Drück über „Politische Justiz 1918 – 1933“, ebenso die Schriften zur Gewaltfreiheit von Nikolaus Koch und Theodor Ebert, allesamt Mitglieder im „Verband der Kriegsdienstverweigerer VK“. Von der Freundschaft zwischen Heinrich Hannover und Kurt Nelhiebel ahnte ich seinerzeit nichts.

Ein Jahrzehnt später, 1976, entdeckte ich das Fischer-Taschenbuch „Rechts wo die Mitte ist – der neue Nationalismus in der Bundesrepublik“, verfasst von Conrad Taler. So nannte sich Kurt Nelhiebel, damals Redakteur bei Radio Bremen, wenn er nicht qua Amtes schrieb. Es war eine Auseinandersetzung mit den Altnazis, die in Justiz, Verwaltung und Wirtschaft erneut Karriere machen konnten, sowie mit der NPD und deren heimlichen Bewunderern in CDU und CSU.

Ein knappes Vierteljahrhundert danach, um 2002, fiel mir Conrad Taler erneut auf. Zu dieser Zeit stieß ich auf sein Buch „Zweierlei Maß. Oder: Juristen sind zu allem fähig“. Heinrich Hannover hatte dazu ein Vorwort beigesteuert. Es war eine kritische Streitschrift über eine Justiz, die nach der deutsch-deutschen Vereinigung allzu häufig gegen die Grundsätze einer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung verstieß, weil sie Juristen aus der ehemaligen DDR völlig anders behandelte als solche des NS-Staats. Das Buch stelle, so Heinrich Hannover in seinem Vorwort, »zwei Sachkomplexe der jüngeren deutschen Justizgeschichte gegenüber: den sanften, verständnisinnigen Umgang mit Nazi-Verbrechern auf der einen Seite, und die mit den dort verkündeten Rechtsgrundsätzen unvereinbare harte Linie bei der Aburteilung von Funktionsträgern der DDR. Conrad Talers Buch ist eine Provokation, es steht quer zur Strömung des Zeitgeistes, der über Recht und Unrecht und über die Staaten, wo das eine und wo das andere zu suchen ist, Bescheid zu wissen glaubt.«

Im Jahr 2003 erschien unter dem Titel „Asche auf vereisten Wegen“ eine Auswahl von Nelhiebels Berichten über den 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963 – 1965), die er ursprünglich für eine jüdische Zeitung in Wien verfasst hatte. Der Newsletter des Fritz-Bauer-Instituts stufte die Sammlung als außerordentlich lesenswert ein: »Talers Buch ist jedem zu empfehlen, der sich rasch über den Verlauf des Auschwitz-Prozesses, über dessen Höhepunkte und die im Gerichtssaal ausgetragenen Konflikte ein Bild machen möchte. Jeder wird zudem durch Talers außerordentliches sprachliches Darstellungsvermögen belohnt.« 2015 erschien eine zweite Auflage, die einen detaillierten Aufsatz über den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer enthält, verfasst von der Bauer-Biografin Irmtrud Wojak.

Nicht zu vergessen sind Nelhiebels Bücher „Skandal ohne Ende“ (2007) und „Gegen den Wind“ (2017), in denen er das Salz der Aufklärung in die offenen Wunden der Bundesrepublik streute. Damit folgte er einer Mahnung Fritz Bauers: »Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.«

Vor mir liegt ein Buch, das eine Sammlung von Artikel enthält und unter dem Titel „Das dünne Eis von gestern und heute“ im Jahr 2019 erschienen ist. Neben vielen anderen Beiträgen, die auch aus dem zeitlichen Abstand immer noch außerordentlich lesenswert sind, habe ich zwei besonders markiert. In einem berichtet er von jenem „unvergesslichen Tag“ als er bei Heinrich Hannover im Teufelsmoor bei Worpswede zu Gast war. In einem anderen äußert er sich aus der Rückschau zum KPD-Verbot von 1956. Anlass war eine Veröffentlichung des Rechtshistorikers Josef Foschepoth, der den fünfjährigen Verbotsprozess ausschließlich von politischen Gründen getragen sah und keineswegs von staatsrechtlichen, was ausschließlich geboten gewesen wäre. Die Justiz war von einer Regierung instrumentalisiert worden. Kurt Nelhiebel hat sich immer wieder mit jener Form von Rechtsbeugung befasst, die von einer politischen Partei oder einer Regierung veranlasst wurde.

Im Mai vor siebzig Jahren kam es vor der Gruga in Essen, dem Gelände einer Gartenbauausstellung, zu heftigen Protesten gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands. Der Protest war initiiert worden von KPD, FDJ, linken Sozialdemokraten, Gewerkschaftern und christlichen Friedensgruppen. Auf Anweisung des NRW-Innenministers ging die Polizei von vornherein mit Schlagstöcken gegen die Demonstranten vor, die Versammlung sollte ohne Wenn und Aber niedergeknüppelt werden. Philipp Müller, ein FDJ-Mitglied, wurde sogar erschossen. Kurt Nelhiebel hat ihm stellvertretend für alle Opfer in einer jüngst in „Weltexpresso“ veröffentlichten Artikelserie ein Denkmal gesetzt. Wir, die 18- bis 25-Jährigen, die sich am Ende der 60er Jahre im „Haus Bommern“ trafen, waren überwiegend ahnungslos von den gewalttätigen Auseinandersetzungen in unserer Heimat gewesen. Bereits damals hätten wir eines radikalen Aufklärers wie Kurt Nelhiebels bedurft. Gut, dass wir früher oder später den Weg zu seinen Schriften fanden. Und es ist besonders erfreulich, dass er, mittlerweile hoch betagt, immer noch unter uns ist. Herzliche Glückwünsche und alles Gute.

Foto:
Kurt Nelhiebel – Schreiber, Leser, Vortragender
© Kurt Nelhiebel