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Kategorie: Zeitgeschehen
Bildschirmfoto 2022 07 01 um 09.15.44Interview mit dem deutschen Historiker Michael Brenner zum 25. Jubiläum des Lehrstuhls für jüdische Geschichte in München

Yves Kugelmann

München (Weltexpresso) - tachles: Der Lehrstuhl für jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München feiert sein 25-jähriges Bestehen. Warum ist das in Deutschland ein wichtiges Jubiläum?


Michael Brenner: 25 Jahre erlauben ja doch einen Rückblick auf Veränderungen innerhalb einer Generation, dies auch im Bereich der Jüdischen Studien in Deutschland. In diesem Zeitraum haben wir eine Hochzeit des Interesses an diesem Thema erlebt; es gab einige neue Gründungen wie das Jüdische Museum in Berlin, akademische Einrichtungen und anderes mehr. Das hat sich allerdings nun gefestigt und ein bisschen gelegt, was auch mit dem Abstand zur Schoah zu erklären ist. Wichtig ist indessen, dass sich eine Art Landschaft im Bereich der Forschung zu jüdischer Geschichte und Kultur im deutschsprachigen Raum herausgebildet hat – ebenfalls in der Schweiz.


Sind die Entwicklungen in der Forschung und der jüdischen Gemeinschaft Deutschlands miteinander verbunden?
Die Vergrößerung der jüdischen Gemeinschaft durch die Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion und das Interesse an Jüdischen Studien haben sicher etwas miteinander zu tun. Auch wenn die meisten Studierenden nicht jüdisch sind, wird in der Gesamtgesellschaft wahrgenommen, dass die jüdischen Gemeinden nicht nur weiterexistieren, sondern letztes Jahr auch 1700 Jahre deutsch-jüdisches Leben feiern konnten. Wären nur 20 000 und nicht 200 000 Juden in diesem Land, hätte das anders ausgesehen.


In Deutschland aufgewachsen, haben Sie Ihr intellektuelles und akademisches Rüstzeug vornehmlich aus den USA mitgebracht. Sind Sie in diesem Sinne ein Import?
Eher ein Reimport. Denn ich habe ja ursprünglich in Deutschland studiert und meinen Magister in Heidelberg an der Universität und Hochschule für jüdische Studien gemacht. Das war Ende der Achtzigerjahre, und es gab hier die Möglichkeit der Promotion auf dem speziellen Bereich jüdische Geschichte nicht. Ich war damals zum Studium in Israel und musste mich entscheiden, dort zu bleiben oder nach Amerika zu gehen. Das waren eben die gegebenen Möglichkeiten, wenn man sich wirklich in diesem Bereich spezialisieren wollte. Ich hätte allerdings nicht damit gerechnet, nach zehn Jahren in Israel und den USA 1997 nach Deutschland zurückzukommen, aber dann wurde diese Stelle in München gegründet. Das war spannend und ein wenig Pionierarbeit. Die Räume hier waren noch unmöbliert, und ich musste nach Mitarbeitenden Ausschau halten.


Gab es damals Dinge, die in den USA selbstverständlich und in Deutschland nicht vorhanden waren?
An der Columbia University in New York, wo ich promoviert wurde, war es zum Beispiel Voraussetzung, dass man Hebräisch konnte, wenn man sich in jüdischer Geschichte spezialisierte. Das habe ich dann auch in München für jene Studierenden eingefordert, die dies zu ihrem Spezialgebiet machen wollten, und überdies eine Stelle für ein Lektorat in Neuhebräisch, die von der Unileitung sofort bewilligt wurde. Später kam noch eine Stelle für jiddische Sprache dazu.


Gibt es auch Studierende, die sich nicht spezialisieren wollen?
Ja, alle Kurse sind auch für jene geöffnet, die sich nicht spezialisieren wollen und demgemäß die sprachlichen Voraussetzungen nicht erfüllen müssen. Denn die jüdische Geschichte ist ja einfach Teil der Geschichtswissenschaft, und wir sind an der LMU München ein integraler Teil des Historischen Seminars. Im Lauf der Jahre kam auch noch mehr dazu, etwa eine Mittelalterprofessur – denn mit einer Professur kann man nicht 2000 Jahre jüdischer Geschichte abdecken – und später das Zen-trum für Israel-Studien, das erste im deutschsprachigen Raum.


Was sind die Schwerpunkte Ihrer Bücher, was fasziniert Sie speziell?
Ich habe vor allem über jüdische Kultur und Geschichtsschreibung, später auch über Zionismus und Israel geschrieben. Aber im letzten Buch geht es sowohl um die jüdischen Revolutionäre in München 1918/19 wie auch den Aufstieg des Nationalsozialismus; München wurde schon anfangs der Zwanzigerjahre zur Hauptstadt des Antisemitismus. Über die Revolutionäre wollte ich schon meine Magisterarbeit schreiben, dieses Thema hat mich immer fasziniert, auch weil es von den Antisemiten besetzt war und ich es ihnen nicht überlassen wollte.


Sozialismus und Sozialdemokratie sind – eher ungewöhnlich – auch Themen in Ihren Büchern. Woher kommt das?
Vermutlich aus meiner Zeit in Amerika, dort gab es, denke ich, eine viel freiere Herangehensweise an die jüdische Geschichte. In Deutschland herrschte in den Neunzigerjahren auch unter Juden die offizielle Auffassung vor, dass das Judentum eine religiöse Angelegenheit sei und deutsche Juden in erster Linie deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens seien. Aber das traf auf die meisten Juden damals gar nicht mehr zu, denn so religiös waren sie nicht, und ihre jüdische Identität bestand sehr oft aus ganz anderen Elementen.


Könnte man sagen, dass diese Art Judentum die Leute in die Sozialdemokratie getrieben hat?
In den 1920er-Jahren waren die Juden in den bürgerlichen Parteien, in denen sich die meisten eigentlich aufgrund ihres sozialen Status viel wohler gefühlt hätten, immer weniger willkommen. Sie stellten so gut wie keine Juden mehr als Kandidaten für höhere politische Positionen auf; dennoch wählten viele, vor allem orthodoxe Juden, immer noch bürgerlich. Die Sozialdemokratie war damals stark die Klassenpartei; die meisten Juden gehörten allerdings nicht zu jener Klasse, die sie vertrat. Doch die Mitteparteien verschwanden zu dieser Zeit praktisch und wurden unbedeutend. Und wenn eine Partei den Antisemitismus noch bekämpfte, war das eben vor allem die Sozialdemokratie.


Heute ist sie aber bezüglich Antisemitismus eher zu einem Feindbild geworden. Woher kommt das?
Das hat natürlich vor allem mit Israel und der Haltung gegenüber dem Nahostkonflikt zu tun. Aber es gab auch damals schon Debatten um Antisemitismus, und in Dokumenten zur Revolution in München und den jüdischen Sozialdemokraten sind durchaus einige von ihnen zu finden, die sich antijüdischer Sprache bedienten. Das waren aber die Ausnahmen. Trotzdem war klar, dass in der sozialdemokratischen Partei in der Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und 1933 der Antisemitismus stärker bekämpft wurde als in anderen Parteien.


Was ist aber seither außerhalb der Israel-Kontroverse, die in den Siebzigerjahren begann, geschehen, dass die Sozialdemokratie heute als so antijüdisch dargestellt wird?
Ich denke, dass es sich seit dann vor allem unter Corbyn in England nochmals zugespitzt hat, dessen Aussagen teilweise durchaus in den Bereich des Antisemitischen einzuordnen sind. Trotzdem sollte man nicht die Sozialdemokratie wegen Einzelpersonen in diesen Kreis verweisen. In der Regel hat sie immer wieder dazu gefunden, sich von diesem Vorwurf zu Recht zu befreien. Aber für viele europäische Juden ist heute die wesentliche Frage, wie Politiker zu Israel stehen. Die Distanzierung der europäischen Sozialdemokratien hat indessen sicher auch damit zu tun, dass die Linke in Israel stark geschrumpft ist und die israelischen Premiers über viele Jahre stets auf der rechten Seite zu finden waren.


In Israel hat politisch ein starker Wandel nach rechts stattgefunden. Kann man das erklären? Was ist da passiert?
Es gab unter anderem eine ganz starke Veränderung dessen, was wir heute überhaupt als Zionismus empfinden und definieren. Vor 50 oder 100 Jahren war das völlig anders. Für die Entwicklung nach rechts gibt es aber verschiedene Begründungen. Eine ideologische ist die Frustration über den gescheiterten Friedensprozess seit Mitte der Neunzigerjahre. Seitdem ist die Linke in Israel sehr stark desillusioniert, auch weil sie auf der arabischen Seite keinen Partner hat oder sich in Israel zunehmend als Minderheit wiederfindet. Die andere, sehr wichtige Begründung ist der demografische Wandel. Während der ersten Jahrzehnte nach der Staatsgründung hatten religiöse Parteien und Juden sehr, sehr wenig Einfluss; die führenden israelischen Politiker waren damals alle säkular, egal ob links oder rechts. Das hat sich geändert, vor allem weil bei einem Durchschnitt von sieben Kindern die ultraorthodoxe Bevölkerung und die nationalreligiöse Ausrichtung sehr stark wachsen. Das hat politische Konsequenzen. Und obendrauf kommt noch die Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion – auch dies Menschen, die meist rechts der Mitte wählen, um sich von Kommunismus und Sozialismus zu distanzieren. Ich sehe nicht, wie sich das in den kommenden Jahren ändern soll – es wird eher weiter nach rechts gehen.


Kann man sagen, dass Israel heute, im Gegensatz zu früher, eher durch eine rechts stehende, konservative Gesellschaft gespiegelt wird?
In einem gewissen Sinn schon. Das reflektiert natürlich auch den Niedergang der Sozialdemokratie auch in Europa. Israel ist da gar nicht alleine; in den letzten Jahrzehnten haben die Sozialdemokraten viele Stammwähler verloren, teilweise auch an rechts. In Israel ist das besonders dramatisch, weil der Zionismus über Jahrzehnte hinweg mit dem Sozialismus verbunden war. Für viele junge Israeli ist das weit weg, ferne Vergangenheit, und hat mit der aktuellen Realität nichts mehr zu tun.


Das gilt aber ja für das europäische Judentum gleichermassen.
Ja, und sogar für Amerika, wobei dort Sozialdemokratie in den letzten Jahrzehnten gar keine Rolle spielte. In den USA sieht man den Anteil der jüdischen Wähler für die Republikaner derzeit wachsen. Das hat auch mit Israel zu tun, weil es in der demokratischen Partei Politiker und vor allem Politikerinnen gibt, die sich sehr kritisch gegenüber Israel äußern. Demgegenüber muss man sehen, dass das einzige Land außerhalb Amerikas, in dem Trump – der für die amerikanische liberale Demokratie eine Gefahr ist – wahrscheinlich immer noch einmal eine Wahl gewinnen würde, Israel wäre.


Die USA und Russland galten lange als sichere Häfen für Juden, nun sieht man dort den Rechtsextremismus und Antisemitismus zum Vorschein kommen. Was ist geschehen?
Ich hätte mir in den 1980er-Jahren nie träumen lassen, dass in den USA gewalttätige und verbale Angriffe gegen Juden wie in den letzten Jahren vorkommen könnten. Doch aus meiner Perspektive, der ich sowohl in Deutschland wie in den USA lebe, gibt es die immer noch vorhandene Normalität, als Jude in Amerika zu leben, in Deutschland und wohl auch anderen Teilen Europas nicht. Im Alltag, finde ich, spielt das eine große Rolle. In New York oder anderen amerikanischen Großstädten macht man sich mit einer Kippa auf der Strasse nicht groß Gedanken, Objekt eines Angriffs zu werden. Und wenn das Judentum in Deutschland und Europa staatlich gefördert wird, hat das vielleicht eben gerade etwas Unnormales an sich. In Amerika braucht es diese Förderung nicht, auch, weil es eine viel größere Gruppe ist.


Im Gegensatz zu Europa wird aber in den USA Rechtsextremismus und Antisemitismus behördlich nicht geahndet. Historisch gesehen passieren diesbezüglich derzeit große Bewegungen für das Selbstverständnis und die Zukunft der Juden. Hat das Konsequenzen?
Ich denke schon, dass viele amerikanische Juden sich stärker Gedanken über Antisemitismus machen als vor 10, 20, 30 Jahren. Aber ich kenne nur ganz, ganz wenige, die irgendwie an Auswanderung denken würden, im Unterschied zu Europa, und das einzige Ziel wäre Israel. Nur ein winziger Prozentsatz der amerikanischen Juden macht das aber wirklich. Die amerikanischen Juden sind wohl noch selbstbewusst genug, dass sie sich damit in Amerika auseinandersetzen, und es gab historisch gesehen in den USA eben nicht diesen gewaltsamen Antisemitismus wie in großen Teilen Europas, und den Holocaust, wenn er auch in anderen, milderen Formen vorkam und vorkommt. Deshalb geht die Diskussion nicht um die Auswanderung, sondern darum, wie man dem hier begegnen kann.


Hat die Normalität des jüdischen Lebens in den USA mit Amerika zu tun oder mit den Juden, haben sie sich dort anders emanzipiert?
Es hat mit der vielfältigeren amerikanischen Gesellschaft zu tun. Und obwohl in den USA viel mehr Menschen in die Kirchen gehen, ist Deutschland, denke ich, im Kern doch noch eine stärker christlich geprägte Gesellschaft, und die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft ist weniger groß als in Amerika.


Sie haben in Ihrem letzten Buch über jüdische Revolutionäre geschrieben. Sind die Juden für Revolutionen tauglich, oder sind sie eher deren Opfer?
Beides. Man sieht ja, dass jüdische Revolutionäre letztlich mit ihrer Revolution entweder gescheitert sind oder sie mit ihrem Leben bezahlt haben. Die Münchner Juden haben sich beispielsweise 1918 in ihrer Mehrheit ziemlich stark von den jüdischen Revolutionären distanziert. Denn sie wussten, dass sie den Preis dafür zahlen würden, falls diese scheitern. Und so war es auch, obwohl sich die Revolutionäre nicht in erster Linie als Juden verstanden. Aber die jüdischen Gemeinden wussten, dass die Bevölkerung sie als Juden identifizieren würde und sich dann an den anderen Juden, die überhaupt nicht mitzogen, rächen würde.


Und braucht es eine innerjüdische Revolution – oder steuern wir, unter Betrachtung der großen Fraktionen, auf eine solche zu?
Ich würde nicht von Revolution sprechen, aber doch dafür plädieren, dass es in den jüdischen Gemeinden, auch und gerade im Hinblick auf die eigene Geschichte, eine stärkere Rückbesinnung auf die demokratischen Werte gäbe, in ihren jeweiligen Ländern, aber auch in der jüdischen Tradition. Aber wir sehen das schon, etwa in Frankreich, wo die jüdischen Organisationen gegen den Widerstand etlicher Juden Macron gegen Le Pen offiziell unterstützen. Oder in Deutschland der Zentralrat sich sehr eindeutig gegen die AfD äußert, auch wenn es unbestritten jüdische AfD-Wähler gibt. Das finde ich wichtig, auch wenn es sich irgendwann ändern könnte, wenn dieser Ruck zum Populismus noch stärker wird. Und auch wenn man sich darauf besinnen müsste, dass eigentlich eine gesicherte jüdische Existenz nur unter demokratischen Vorzeichen möglich ist.


Könnte es hilfreich sein, wenn Juden vermehrt in die sozialdemokratische Politik gehen und dieses Gesellschaftsmodell wieder stärker für sich adaptieren würden?
Ich würde mich da nicht auf die Sozialdemokratie beschränken. Ich meine, dass man sich grundsätzlich in den Parteien im demokratischen Spektrum engagieren sollte. Und wir sollten ja auch nicht unseren Leuten sagen, wo sie lang gehen sollen. Ich sehe keinen Verrat und keine Gefahr, wenn jüdische Wähler grün oder FDP oder CDU wählen.


Seit 2001 veranstalteten Sie mit Rachel Salamander die jüdischen Kulturtage auf Schloss Elmau. Gibt Ihnen das Gelegenheit, Themen zu platzieren, die innerhalb der wissenschaftlichen Welt den Rahmen sprengen würden?
Ja, natürlich. Mit den bislang zehn Tarbut-Konferenzen wollten wir einen autonomen jüdischen Diskussionsraum außerhalb der offiziellen Plattform, aber mit Unterstützung der Gemeinden schaffen. Wir haben es geschafft, damit eine ziemlich große Bandbreite an jüdischen, vor allem intellektuellen Stimmen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und teilweise auch anderen Ländern zusammenzubringen, um in diesem Freiraum zu sprechen, in dem eigentlich nichts vorgegeben war außer der Tatsache, dass wir im jüdischen Raum sprechen. Das hat es ermöglicht, über Kultur, Politik und Gesellschaft in einer sehr befreienden Art zu sprechen, die viele der ungefähr 300 Teilnehmenden dann mit nach Hause genommen haben.

Foto:
Der Historiker Michael Brenner mit dem Außenblick auf Deutschlands Geschichte
©tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 1. Juli 2022