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Kategorie: Zeitgeschehen
Bildschirmfoto 2023 02 04 um 00.22.50Der deutsch-israelische Soziologe Natan Sznaider im Gespräch

Yves Kugelmann

Basel (Weltexpresso) - Der Soziologe Natan Sznaider ordnet Israels neue Koalition ein und zeigt Szenarien für die kommenden Monate und Jahre auf – ein Gespräch über Israel und Judentum.


tachles: Ist die neue Regierungskoalition ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel, also ein Bruch in der Geschichte des 75 Jahre jungen Staates?

Natan Sznaider: Nicht einer der Gesellschaft; diese ist so gespalten wie zuvor. Politisch ist es aber ganz klar einer. Es gab seit 1977 rechte Regierungen, aber diese hat eine neue Dimension. Ob sie wirklich mit der von ihrer gewollten Radikalität durchregieren kann, ist noch nicht absehbar. Wenn sie das aber wirklich tun wird, ist es kein Regierungs-, sondern ein Regimewechsel, denn sie wollen ja als erste rechte Regierung das System grundlegend verändern.


Mit welchen Begriffen – etwa Theokratie, Autokratie – würden Sie das beschreiben?

Autoritäre Theokratie könnte passen. Das ist, was die orthodoxen Parteien, die immer ein Problem mit dem Staat als neutrale Institution hatten, anstreben. Auch wenn sie nach anfänglicher Feindlichkeit den Staat akzeptierten, um ihre Interessen durchzusetzen, haben sie sich ihre Autonomie bewahrt. Das zeigte sich etwa während der Corona-Zeit, als sie sich nur ihren Rabbinern und nicht dem Staat unterstellten. Oder darin, dass sie den Dienst in der Armee verweigern. Trotzdem sind sie Teil des Staates; der säkulare Sektor bezahlt mit seinen Steuern auch ihr Leben, während sie auf uns herabschauen.


Also hat die Mehrheit in einseitiger Solidarität die Orthodoxie finanziert und gross gemacht?

Ja, richtig. Und man hat sich Einschränkungen erlaubt, die für einen liberalen Staat eigentlich ein Unding sind, etwa das Fehlen der Zivilehe, dass in allen öffentlichen Einrichtungen koscher gegessen werden muss oder dass es am Schabbat keine öffentlichen Verkehrsmittel gibt. Nicht schön, aber man macht um des jüdischen Staates willen eben mit und will ja sein Judentum nicht aufgeben, auch wenn man es anders definiert.


Bis vor Kurzem war «jüdischer Staat» ein liberaler Begriff, nun scheint er zu einem Kampfbegriff zu werden.

Israel war ja nie eine liberale Demokratie im Sinne von neutral, der eigentlichen Definition von liberal; hat sich nie universal, sondern eben als Judenstaat verstanden. Es war nie neutral, was beispielsweise die Religiosität der Staatsbürger anbelangt.


Dann wäre also Frankreich die radikalste liberale Definition?
Ja, oder die Vereinigten Staaten. Das sind Modelle einer wirklich konstitutionell verankerten liberalen Demokratie. Israel hingegen pflegt eher ein osteuropäisches Modell, in dem Nationalität und Ethnizität eng mitei-nander verbunden sind. Nun sind die Orthodoxen dank Demografie und Zusammenspannen mit dem Likud in der Position, den Staat wirklich grundlegend verändern und den Kulturkampf riskieren zu wollen.


Wenn das funktioniert, gibt es dann je wieder ein Zurück?

Nein, weil es wirklich ein Regimewechsel und die Gewaltenteilung ausgehebelt wäre. Zu letzterem sind sie sich, aus anderen Gründen, mit Netanyahu einig. Für die Orthodoxen ist die Aufhebung der Gewaltenteilung wichtig, weil das Oberste Gericht auch die Interessen von Säkularen und nicht jüdischen Minderheiten verteidigt hat.


Wäre Israel damit in der Region angekommen insofern, als rundherum keine Demokratien nach europäischem Standard existieren?

In der Religion und der Region, ja. Und die berühmte «einzige Demokratie des Nahen Ostens» sind wir auch nicht mehr, sondern in der Tat ein sehr nahöstlicher Staat, zumal sich Israel schon seit Jahrzehnten von Europa entfernt hat.


Als Wissenschaftler, als Soziologe mit nüchternem Blick leben Sie in diesem Feldforschungsversuch und sind zugleich aus privaten Gründen nach Israel ausgewandert. Geht das?

Sicher, und ich lebe auch gerne in Tel Aviv. Bei Wahlen haben in Tel Aviv die Arbeitspartei, Jesch Atid und Meretz die absolute Mehrheit. Ich weiss nicht, ob für mich je der Moment kommen würde, um wegzugehen. In meinem Alter sieht man die Dinge nüchtern, aber für die jüngere Generation ist das natürlich eine ganz andere Sache.


Hätte man nicht erwarten können, dass in den vergangenen Jahren aus der Diaspora genug Druck aufgekommen wäre, um das nun Geschehene zu verhindern?

Das ist klar nicht passiert. Man muss aber sagen, dass die beiden orthodoxen und vor allem die religiös-zionistische durch und durch israelische Parteien sind. Sie sind nicht orthodox-jüdisch, sondern orthodox-jüdisch-israelisch. Sogar die Orthodoxie hat sich in Israel nationalisiert.


Also gibt es einen Transfer zwischen Nationalisten und Orthodoxen?

Ja, einen ungeheuer wichtigen sogar, weil man die nun mitregierende Orthodoxie überhaupt nicht mit jener in Zürich, Brüssel oder anderswo vergleichen kann. Das ist keine Diaspora-Gemeinschaft, und sie lehnen mittlerweile den Staat nicht mehr ab. Sie wollen Staat sein und melden sich mehr und mehr zum Armeedienst. Man sollte in der Diaspora verstehen, dass das israelische Judentum und das Diasporajudentum nicht mehr viel gemeinsam haben.


Wäre das nicht an sich wünschenswert?

Soziologisch war ich nie dafür, orthodoxe junge Männer in die Armee einzuziehen. Man glaubt, dass dadurch die Orthodoxie mehr und mehr säkularisiert wird, aber es passiert genau das Gegenteil: Die Armee wird religiöser.


Am letzten Wochenende ist die Spirale zwischen militärischer Intervention und Terrorakten wieder entfacht worden. Trotzdem gingen wiederum Zehntausende gegen die Regierung auf die Strasse. Wäre das früher auch möglich gewesen?

Sicher wurden wieder Stimmen laut, die sagten, dass in den Zeiten des Terrors das Land geeint sein muss und man nicht gegen die Regierung demonstrieren darf. Die Menschen kamen trotzdem, weil sie fürchten, dass dieses Regime ihr Leben grundsätzlich verändern wird. Man hat ja kein Problem mit der Rechtsauslegung des Landes, aber das nun geht in andere Richtungen.


Worum ging es den Israeli, von innen betrachtet, bei diesen Wahlen genau?

Darum, der aschkenasischen Elite eins auszuwischen. Und dass man eben partikularer, orientalischer, lokaler ist und sich von einer gewissen jüdischen Weichheit trennen möchte, die mit der Diaspora in Verbindung gebracht wird.


Hat dieses Partikulare auch mit der Demografie zu tun?

Ja, sicher. Und ich glaube, dass das Diaspora-Judentum verstehen muss, dass Israel nichts mehr mit ihm zu tun hat.


Dabei wurde noch unter der letzten Regierung betont, die Verbindung zur Diaspora stärken zu wollen.

Das sind zwei Ideologien, aber was im Moment in Israel am Regieren ist, will die Diaspora nur noch für die politische Instrumentalisierung. Es gibt keine gegenseitige Verknüpfung mehr. In Israel entwickelt sich nun in der Tat ein nationalistisches, orthodoxes Judentum, das mit dem, was man unter Diaspora versteht, überhaupt nichts mehr zu tun hat.


Gibt sich demnach das Diaspora-Judentum einer Illusion hin?

Ja, klar. Denn Israel ist immer noch auch der Garant für die eigene Sicherheit, weil jüdisches Leben in Europa auch in der Selbstwahrnehmung immer noch prekär ist.


Was könnte in den nächsten Monaten in Israel passieren?

Schwer zu sagen. Wir haben noch gar nicht über die Besatzung gesprochen; mit dieser neuen Regierung gibt es ja auch klar den Versuch, diese permanent zu machen. In gewissem Sinne ist die Besatzung nun in Israel angelangt. Man gab sich der Illusion hin, man könnte Israel und die Besatzung trennen. Nun sind die Regeln der Besatzung in Israel angekommen. Und die Annexion ist wieder voll im Gespräch, ein Anliegen von Smotrich. Das würde natürlich den Konflikt – auch innerhalb Israels zwischen arabischer und jüdischer Bevölkerung – verschärfen. Das könnte sehr explosiv werden, und eine verschärfte Kriegssituation könnte auch dazu ausgenützt werden, Dinge wie Austreibungen voranzutreiben, zumal es dann kein Gericht mehr gäbe, das dem entgegenwirken könnte. Wir hätten dann nicht nur einen autoritären Staat, sondern einen in bislang nicht gekannter Form Gewalt ausübenden.


Haben die liberalen und Likud-Wähler resigniert?

Im Likud gibt es auch ein hedonistisches Element, und diese Leute sehen wohl ebenfalls mit Horror, was da vor sich geht. Aber man bemerkt ja auch bei den Medien, wie schnell die umgeschaltet haben; bei den kommerziellen Sendern sieht man schon eine Art von Selbstzensur, man arrangiert sich ganz schnell mit dem neuen Regime. Und bei den öffentlich-rechtlichen Sendern sagt der neue Kulturminister ganz klar, was nicht mehr gewollt ist.


Die Juden haben jahrhundertelange Erfahrung damit, wegzugehen, wenn es nicht mehr geht. Wird das in Israel so geschehen?

Ein Teil der jungen Generation, Wissenschaftler, Unternehmer, Kulturschaffenden, welche gehen können, werden das wohl tun. Aber die andere Seite wird dann sagen: Dann geht halt. Damit wird Israel ärmer, noch radikaler und noch mehr von der Diaspora abgeschnitten. Irgendwann werden die Diaspora-Juden sagen, dass sie damit nichts mehr zu tun haben wollen.


Kann man eine Prognose auf ein paar Jahre machen?

Nein, denn alles ist möglich, auch das Horrorszenario, dass Israel dann eine Mischung aus Türkei und Iran sein wird.


Wie kann man heute über Israel diskutieren, ohne in die Antisemitismusfalle zu tappen?

Kann man nicht – die Falle ist immer da. Schweigen geht auch, ist aber keine Lösung.


Weltweit ist eine Mehrheit der Juden politisch liberal. Verändert sich das Judentum durch die Entwicklung in Israel diesbezüglich?

Das israelische Judentum wird im Endeffekt auch jenes in der Diaspora verändern. Viele werden sich gegen ihren Willen zu einer Entscheidung gezwungen sehen, was ihre Solidarität mit Israel und das Land als immerwährende potenzielle Heimat und als Sicherheit angeht. Das ist das Prinzip Israel, aber auf der anderen Seite gibt es die israelische Realität, mit der man sich als weltoffener, liberaler Jude nicht identifizieren kann.

Steht das nicht im Gegensatz zu dem, was viele vor Jahren zur Alija bewogen hat?

Ja, und das ist sicher eine Enttäuschung. Aber viele werden wie ich alles dafür tun, um es in irgendeiner Form wieder rückgängig zu machen, auch wenn die Chancen dafür nicht gut stehen.


Weshalb ist denn in den letzten Jahren von diesen Leuten keine Kurskorrektur angestrebt worden?

Wir haben nicht aufgepasst, und der Fehler meines Milieus war, zu glauben, dass sich Israel von einem jüdischen Partikularismus abwenden und ein Staat wie alle anderen sein kann. Partikularismus heisst hier, dass bestimmte jüdische Traditionen jetzt schon integraler Teil der Lebenswelt einer Mehrheit in Israel sind. In meinem Tel Aviver Milieu hat man das ignoriert, eher abfällig als «reaktionär» betrachtet. Was es in vielen Dingen wie der Geschlechterfrage ja auch ist. Aber was soll man denn letztlich machen ausser wählen und demonstrieren gehen?


Aber beispielsweise Carlo Strenger hat immer wieder auf solche potenziellen Entwicklungen der Demokratie hingewiesen.

Ja, aber er wusste, weil er aus einem frommen Milieu stammte, mehr als viele andere und hatte dabei auch den Blick von außen. Er hat das vorausgesehen, ganz klar.


Wäre das historische Schicksal des jüdischen Volkes nicht eigentlich ein Hindernis für das, was heute geschieht – oder ist es sogar der Grund dafür?

Das ist eine sehr typische Diaspora-Frage (lacht). In Israel hat sich, wie schon gesagt, ein israelisches Judentum entwickelt, das es in der Zeit der Könige, der Souveränität, wohl schon gab. «Gib uns einen König, der über uns richtet, wie ihn alle anderen Völker haben», heisst es schon im Buch Samuel. Nun haben wir ihn. Man muss es als ein politisch souverän gewordenes Judentum verstehen – mit all dem, was damit zusammenhängt. Und die Diaspora-Erfahrungen mit Gewalt und Heimatlosigkeit sind dann postsouveräne Erfahrungen. Wenn das Diaspora-Judentum nun auf Israel schaut und sagt: So könnt ihr doch nicht sein, wir Juden sind doch anders, dann stimmt das auf verschiedene Zeiten, die da aufeinandertreffen.


Nur: Wenn man in die Vergangenheit schaut, sind alle jüdischen Staaten untergegangen.

Und das droht jetzt auch. Das wäre dann der nächste Schritt. Aber das Judentum wird auch diesen Staat Israel überleben!


Foto:
Natan Sznaider

Info: 
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 3. Februar 2023