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Kategorie: Zeitgeschehen

Die Analyse einer Überforderung

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Vizekanzler Sigmar Gabriel äußert jetzt öffentlich Zweifel an Angela Merkels Optimismus. Denn die Flüchtlinge scheinen die Bundesrepublik, aber auch die EU zu überfordern.


Eine nüchterne Bestandsaufnahme illustriert das Desaster, das durch Fehleinschätzung und Passivität entstanden ist: In der Bundesrepublik gewinnt eine rechte Partei (mit nachweisbaren Verbindungen in die faschistische Szene) aus dem Nichts ein Stimmenpotential von bis zu 20 Prozent. Die Europäische Union kann sich auf keine Verteilungsquote für Flüchtlinge einigen. Die östlichen EU-Mitgliedstaaten, deren wirtschaftliche Entwicklung vom Geldfluss aus der Gemeinschaft abhängt, verweigern jede Teilnahme bei der Lösung der Flüchtlingsfrage. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erscheint von der Spitze bis auf die Sachbearbeiterebene mit der Registrierung intellektuell überfordert zu sein. Und die über eine Million Menschen, die auf der Flucht vor den elenden Zuständen in ihren Heimatländern den Weg nach Deutschland gefunden haben, erweisen sich nach dem derzeitigen Stand in ihrer Mehrheit als schwer bis schwerst integrierbar.

Das Beherrschen der deutschen Sprache, faktisch der Schlüssel zu einer Eingliederung, bewegt sich gegen Null. Die beruflichen Kenntnisse befinden sich auf dem Niveau handwerklicher Hilfsarbeiter und hätten vielleicht vor 50 bis 60 Jahren für den Bergbau im Ruhrgebiet genügt. Die Vertreter der Schlüsselindustrie, die vor einem Jahr in den Optimismus der Kanzlerin einstimmten, haben etwa 100 Arbeitsplätze bereit gestellt, man hätte einige Zehntausend erwartet. Das Handwerk rechnet sich zwar Chancen aus, seinen Personalbedarf aus geeigneten Kontingenten der Flüchtlinge decken zu können, aber fehlende Sprachkenntnisse und ungenügende Erfahrungen mit moderner Technologie erweisen sich als Hindernisse.


Deutschland benötigte eine riesige Lehrwerkstatt mit dezentralen Arbeits- und Unterrichtsstätten für Hunderttausende. Um eine halbe Million Menschen darin zu unterweisen, wären mindestens12 Milliarden Euro pro Jahr anzusetzen. Die zeitliche Dauer eines solchen Projekts, das derzeit völlige Zukunftsmusik ist, wird realistisch mit einem Jahrzehnt zu veranschlagen sein; die gesamten Kosten lägen mithin bei mutmaßlichen 120 Milliarden Euro. Die Versorgung der Familienangehörigen wird Ausgaben in zusätzlicher Milliardenhöhe notwendig machen. Die Flüchtlinge werden dies auf längere Sicht nicht erarbeiten können. Erfahrungsgemäß werden Wirtschaft und Großverdiener an Sozialkosten nicht bis gering beteiligt. Wer also springt in die Bresche?

Die Kostenschätzung ergibt sich auf der Grundlage bereits getätigter Aufwendungen: Gegenwärtig verursacht ein nicht begleiteter junger Erwachsener für Unterbringung, Verpflegung und Sprachunterricht in Hessen jährliche Kosten in Höhe von ca. 25.000 Euro (Quelle: Hessischer Rundfunk). Dies entspricht dem Doppelten, das die Deutsche Rentenversicherung im Jahr 2014 im Durchschnitt an jeden männlichen Rentner nach vier Beitragsjahrzehnten ausgezahlt hat (Quelle: Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik 2016).

In diesem Verhältnis verbirgt sich hochgradiger gesellschaftspoltischer Sprengstoff. Der Durchschnittsverdiener wird seine Lebensplanung und seine langfristige Einkommenserwartung durch die Flüchtlinge bedroht sehen. Der Arbeiter ohne reguläre Berufsausbildung konkurriert bereits heute mit Ausländern um schlecht bezahlte Stellen. Erschwert wird diese Prognose noch durch den kulturell-religiösen Hintergrund der Asylsuchenden.

Vor allem in den alten Industriezentren an Rhein und Ruhr sind die Erfahrungen der Menschen mit Zuwanderern aus islamischen Ländern, vor allem aus der Türkei, getrübt. In Köln, Duisburg oder Dortmund trifft man auf Einwanderer, überwiegend Türken, die auch nach vierzig bis fünfzig Jahren, die sie in diesem Land leben, kaum ein Wort Deutsch sprechen. Unter den etwa zeitgleich angekommenen Gastarbeitern aus Jugoslawien, Italien oder Spanien stellt die Sprache längst kein Problem mehr dar. Während letztere ähnlich säkular eingestellt sind wie die deutschstämmigen Einwohner (trotz nomineller Zugehörigkeit zur Orthodoxen oder Katholischen Kirche), verzeichnen die Moscheen seit drei Jahrzehnten einen großen Zulauf. Möglicherweise ist das Ausdruck einer Flucht aus der Welt, in der man nicht wirklich angekommen ist. Doch wie sollen soziale Kontakte entstehen und funktionieren, wenn Sprache, religiös-kulturelle Einstellungen etc. solchem Miteinander entgegenstehen?

Wirft man einen Blick auf Mitbürger mit türkischem Hintergrund, die in der Gesellschaft offensichtlich angekommen sind, fallen sowohl das perfekte Beherrschen der deutschen Sprache, die Aufgeschlossenheit für Bildung und Kultur als auch die nicht mehr im Vordergrund stehende religiöse Bindung auf. Die Pro-Erdogan-Demonstration in Köln vor vier Wochen dokumentierte anschaulich den soziokulturellen Standort vor allem von Deutschtürken. Vor diesem Hintergrund sind die Befürchtungen, gar Ängste, die sich in immer mehr Kreisen der Bevölkerung breit machen, kaum zu entkräften.

Im Ruhrgebiet hat, das darf nicht unerwähnt bleiben, die Integration einer Zuwanderergruppe vor mehr als hundert Jahren sehr gut funktioniert. Nämlich die der Polen, die im letzten Fünftel des 19. Jahrhundert als Arbeiter in Bergbau und Hüttenwerke strömten. Die waren von dem Ehrgeiz beseelt, sich schnell zu integrieren. Während der ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts haben viele sogar ihre polnischen Namen dem deutschen Sprachgebrauch angeglichen. Ein Integrationskatalysator ist sicherlich auch die Katholische Kirche gewesen, die ihre polnischen Glaubensgeschwister vorbehaltlos angenommen hatte.

Jenseits der Schönfärberei und Beschwichtigung der Großen Koalition sieht Deutschlands gesellschaftspolitische Zukunft bei realistischer Betrachtung nicht gut aus - es sei denn, es würde sich umgehend etwas grundsätzlich ändern. Ändern in Richtung einer realistischen Einschätzung, auf die ein konsequentes Handeln folgte, das dennoch humane Grundsätze, also ein gerechter Umgang mit den Flüchtlingen, nicht über Bord würfe.

Ansonsten bestünde die Gefahr, dass als Reaktion auf eine rechtsradikale Unterwanderung altbekannte, überwunden geglaubte autoritäre Strukturen die Chance erhielten, sich im Sinne einer neuen geistigen Wende wieder dauerhaft zu etablieren.

Und all das, weil eine Bundeskanzlerin, die es hätte besser wissen müssen und können, ein euphemistisches Schlagwort zur falschen Zeit benutzte? Die Banalität des „Wir schaffen das“ erscheint mir aus dem Munde einer Realpolitikerin so widersinnig, dass ich nicht mehr an unbeabsichtigte und zufällige Entwicklungen glaube. Haben neoliberale Kräfte, die ohnehin weltumspannend agieren und auch an den Kriegen, die laufend Flüchtlinge produzieren, nachweislich beteiligt sind, die Gelegenheit ergriffen, um im wirtschaftlich am besten entwickelten Land Europas jenseits demokratischer Strukturen Fuß zu fassen?