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Kategorie: Bücher
Bildschirmfoto 2022 05 01 um 04.00.06Irmgard Keuns NACH MITTERNACHT, Frankfurt liest ein Buch 2. – 15. Mai 2022, Teil 6

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Das war ein Irrtum, den ich heute bedauere, auch deshalb, weil ihre Bücher so gut geeignet sind, über das Wesen, besser: das Unwesen des Nationalsozialismus zu informieren auf eine Art, die sicher solche Menschen, die Faschismustheorien nicht lesen, direkt erreichen kann. Verblüfft sage ich heute, das sind ja die reinsten Aufklärungsschriften über ein Menschheitsverbrechen, dem die Massen folgten, die Irmgard Keun hier locker und leicht vorlegt. Hier erkennen wir das erbärmliche Verhaltenen von Menschen, die Anpasserei, das Duckmäusertum, das Anschwärzen des anderen zum eigenen Vorteil, Lug und Betrug, um besser dazustehen, auf der Leiter nach oben eine Stufe zu erklimmen, indem man den drunter Stehenden auf den Kopf tritt, der dann von der Leiter stürzt. 

Und, dachte ich dann, klar, daß das nach 1945, als sie ja hätte gelesen werden können, niemand lesen wollte. Wer liest schon gerne von seiner eigenen Schande, denn noch niemand hat so den alltäglichen Faschismus von kleinen Leuten beschrieben, wie es Irmgard Keun tut, über die kleinen schäbigen, armen Leute, die sich den Großen anhängen, um auch was abzukriegen vom Kuchen, denn irgendwas wird von der Tafel der Nazis schon abfallen für die Anhänger.

Bei GILGI, ihrem Debütroman 1931, der gleich der erste große Erfolg wurde, heißt es ja mit Bindestreich – EINE VON UNS. Gilgi ist Stenotypistin in Köln, übrigens hatte auch Keun als eine solche gearbeitet, sie wußte also, wovon sie sprach und wie Gesprächsverläufe unter Stenotypistinnen verlaufen, die ja immer mit großen Herrn zu tun haben, die diktieren, wo es lang geht: im Geschäft, auf der Welt. Die Stenotypistinnen lernen diese ‚bedeutenden‘ Männer, die diktieren, immer auch als unsichere Männer kennen. Ein interessanter aussterbender Beruf, wo heutzutage auch Spitzenmanager ihre Emails selber schreiben. Diese Gilgi schreibt, wie sie spricht, besser: Irmgard Keun schreibt, wie Gilgi spricht, die durchaus selbstbewußt ihre Arbeit macht und über die Welt ihre eigenen Gedanken. Das sind nicht die geplagten Mütter und abservierten Geliebten, die zu Wort kommen, wie es der bürgerliche Roman favorisierte, sondern lebensfrohe, auf die Zukunft bauende freche junge Frauen, was Irmgard Keun in DAS KUNSTSEIDENE MÄDCHEN 1932 nachschob.

Kolportiert wird, daß Alfred Döblin Geburtshelfer war, der sich direkt über sie geäußert hatte: „Wenn Sie nur halb so gut schreiben wie Sie sprechen, erzählen und beobachten, dann werden Sie die beste Schriftstellerin, die Deutschland je gehabt hat.´“ Welch ein Lob! Und mit einem weiten zeitlichen Abstand hat sie zu ihrem 100sten Geburtstag auch eine wirklich schöne Würdigung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erfahren:  „Was die Keun aus der schon nicht mehr ganz Neuen Sachlichkeit machte, das war eine artistische Popliteratur: eine rasante Melange aus Schlager und Schreibmaschine, aus innerem Monolog, zarten Lyrismen und genau gehörter Umgangssprache, aus Werbeplakaten und Revuenummern.“

Doch dazwischen wirkten die Nationalsozialisten, die beide Romane auf die Schwarze Liste setzten, als „Asphaltliteratur mit antideutscher Tendenz“ brandmarkten und zudem alle ihre Anträge, in die Reichsschrifttumskammer aufgenommen zu werden,ablehnten, was aber die Voraussetzung für’s Publizieren war. Heute ist es eine Ehre, daß die Nazis ihre Bücher verbrannten, damals bedeutete dies Schreibverbot.

Dadurch, daß sie erst 1936, direkt nach dem halbjährigen Aufenthalt in Frankfurt, wohin sie ihren Mann Johannes Tralow begleitet hatte, Deutschland verließ, gehört sie zu den wenigen, die authentisch über diese Jahre schreiben konnte, anders als es die ungleich politischere Anna Seghers ( Frankfurt liest ein Buch 2017: Das siebte Kreuz) konnte, die gleich nach der Machtergreifung von den Nazis als Kommunistin festgenommen wurde, bei der ersten Gelegenheit nach Frankreich floh und als die Deutschen sich auch dort einnisteten, von dort erneut, diesmal nach Übersee, nach Mexiko fliehen konnte.

Liest man ihre Romane heute, wo bei aller Rechtslastigkeit der deutschen Gesellschaft dennoch eine andere Bereitschaft besteht, sich mit den Verbrechen der Nazis auseinanderzusetzen, dann hat man hier ein Anschauungsmal über den alltäglichen Faschismus, der seinesgleichen sucht. Schade, daß man diese Frau nicht zu Lebzeiten hat würdigen können.

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Info:
Bisherige diesjährige Artikel zu Frankfurt liest ein Buch: Keun
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