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Kategorie: Bücher

9783775755269 02Die Wunderkammern der Sasha Waltz, Teil 1

Hanswerner Kruse

Berlin (Weltexpresso) – In dem vor kurzem erschienen Buch „Sasha Waltz & Guests“ nehmen uns die Herausgeber – Sasha Waltz selbst und Lebensgefährte Jochen Sandig – mit auf einen „assoziativen Weg durch die Geschichte“ ihrer Compagnie: „Wir sind Traumtänzer in dieser ver-rückten Welt. Oder doch eher Seiltänzer? Ohne Netz. Unser Netz ist die Kunst.


Doch sie spüren langsam das Alter auf sich zukommen, die Endlichkeit, da sei es an der Zeit, einen umfassenden Rückblick zu wagen. Damit wollen sie „das Papier zum Tanzen bringen.“ 

Das gelingt ihnen überzeugend! 

Denn den wenigen großen Schriften über das Ensemble fügen sie keine aktuellen Analysen der letzten Choreografien oder weitere Lobeshymnen der Kritik hinzu. Stattdessen entwickeln sie mit dem Gestalter Daniel Wissmann – sehr überraschend – gleich zu Beginn des Buches auf 200 Seiten poetische Collagen, die sie etwas trocken „Codes“ nennen: Jeweils mit Proben- und Aufführungsfotos, Arbeitsskizzen, kunstgeschichtlichen Bildern und knappen Texten umreißen sie insgesamt 65 szenische Gebilde aus dem Oeuvre von Sasha Waltz.

9783775755269 07Es beginnt zurückhaltend, mit unspektakulären Bildern zum Code „Anfang“, in dem Waltz bekennt: „Wenn man ein Stück anfängt, ist das, als ob man von einem Riesenfelsen hinunterspringt…“ Doch dann wird es üppiger bei „Animal“: Fotos animalischer Tanz-Figuren aus unterschiedlichen Arbeiten. Eine Tier-Mensch-Malerei der Choreografin. Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“. Das stachelige Wesen aus dem Werk „Kreatur“ (Foto links). Wunderbar ist auch die umfangreiche Kreation „Kreis“, die durch eindringliche Bilder aus „Sacre“, „Women“ und „Medea“, lebendig wird. „Der Kreis ist eine magische Gestalt. Er markiert einen Ort, an dem sich ein Zauber vollzieht, ein Ritual, eine kultische Handlung.

Zarte Gebilde wie „Blumen“ oder „Ei“ fügen sich zu kleinen Codes, im Gegensatz zu „Schlangen“ oder „Linien“, in denen sich liegende, ausgestreckte Tänzerinnen und Tänzer festhalten und durch gigantische leere Museumsräume winden. Weitere, einander ähnliche Collagen, etwa „Flüssigkeit“ und „Wasser“, werden dargestellt. Auf einer Doppelseite Fotos der Oper „Dido & Aeneas“ – von tauchenden Tanzenden in riesigen Aquarien. Auf einem Foto trinkt die Tänzerin einen Schluck aus einer Pfandflasche. Spektakuläres und Banales…

9783775755269 08Körperbilder ziehen sich leitmotivisch durch: „Knäuel“, „Körper“, „Körperberge“, „Perfekte Körper“. Dazu, manchmal persönliche Stimmen: „Als Kind wurde ich aus dem Ballettunterricht entlassen“, schreibt eine Tänzerin des Ensembles, „da ich weder in die klassischen Gestik-Korsette hineinpasste noch den dafür perfekt geeigneten Körper besaß.“ Manchmal poetisch: „Ohne zu greifen trägt die Hand den Arm, das Schulterblatt das warme Gewicht eines weiteren Körpers. Das Gewicht von Geschichten ganz nah. Verletzlich werden sie, begriffen zu werden.“ 

So werden fast alle 65 Codes kurz und jeweils unterschiedlich kommentiert. Viele sind inhaltlich nicht vergleichbar und untereinander fremd wie „Kuss“, „Mond“, „Pfahl“, „Melancholie“ oder „Teller“. Manche tauchen in den Stücken der Compagnie häufiger auf, andere seltener. Doch sie bilden kein tanzdramatisches Alphabet, kein Bewegungsvokabular wie „In C“, den 43 streng umrissenen Bewegungs-Vorgaben der Choreografin für offene Improvisationen. 

9783775755269 01Alle diese poetischen Collagen bleiben unbestimmt, sind offene Gebilde. Sie mobilisieren Erinnerungen an selbst Gesehenes bei Waltz oder in anderen Tanzstücken, fordern eigene Fantasien und individuelle Assoziationen heraus. Selbst wenn man ihre Arbeiten kaum kennt, evozieren die Codes innere Bilder, lösen Emotionen aus, gehen manchmal sogar unter die Haut.

Ich sehe sie wieder, die Frauen aus „Women“: Sie essen ihre Haare als Spaghetti, auf großen Tellern – „Haare“ und „Teller“, zwei Codes von Waltz. Später die aufdringlichen „Rachefrauen“ (noch ein Code), nackt, zu nah. Ich quetsche mich durch sie hindurch.


Die 200 Seiten sind eine große Herausforderung. Man kann versuchen, die von den Herausgebern so genannte „enzyklopädische Wunderkammer“ rational zu verstehen. Oder man kann sich ihr neugierig ausliefern wie einer unbekannten Choreografie, sich staunend darin treiben lassen. 

Bei aller Euphorie darf man nicht vergessen, dass die Codes nur Übersetzungen sind. In der Beschreibung von Tänzen gehen das körperliche Miterleben, der spezielle Kontext, die Einmaligkeit und Authentizität einer Aufführung natürlich verloren. Doch allemal können diese poetischen Collagen den Zugang zum Werk von Sasha Waltz ermöglichen oder vertiefen – und als eigenständige Kunststücke genossen werden.

Fortsetzung folgt

Fotos:
© Hatje-Canz-Verlag