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Kategorie: Bücher

wildDer Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2025: Die Philippinen vom 15. bis 19. Oktober, Teil 10


Angelika Schmitt-Rößer

Kassel (Weltexpresso) - Es handelt sich um eine berührende Own-Voice-Geschichte über Kolonialismus, Rassismus und Ausbeutung vor dem Hintergrund der Weltausstellung von 1904. Damals reisten mehr als tausend Menschen aus den von den USA kolonisierten Philippinen nach St. Louis um Teil der Weltausstellung zu werden. Unter ihnen waren viele Mitglieder des indigenen Bergvolkes Igorot.


Candy Courlay gibt in ihrem gut recherchierten und spannenden (Jugend-)Roman um dieses historisch dokumentierte Ereignis den Menschen ein Gesicht, einen Charakter und vor allem eine Stimme.

Ihre Hauptfigur und Ich-Erzählerin ist Luki, 16 Jahre alt, eigensinnig, impulsiv, humorvoll und lern- und wissbegierig.

Sie ist im ständigen inneren Dialog/Zwiegespräch mit ihrer kürzlich verstorbenen Mutter, der sie ihre Gedanken, ihre Sorgen, aber auch schockierende Erfahrungen oder ihre Reue mitteilt, wenn sie ungestüm oder im Zorn zu weit gegangen ist: „Oh Mutter, warum hast du mich nicht mehr Selbstbeherrschung gelehrt!“ (S. 21)

Vor allem aber ist Luki eine talentierte und geübte Jägerin, was sie verheimlichen muss, denn es gehört nicht zu den Aufgaben der Frauen ihres Volkes. So wirft sie ihrer Mutter vor: „Du warst diejenige, die es lustig fand, mir einen Lendenschurz anzuziehen… du warst es, die mich verändert hat. Und jetzt bist du in der unsichtbaren Welt, Mutter, und lässt mich mit den Konsequenzen allein.“ (S. 20)

Und natürlich billigen auch die Ältesten Lukis Jagdaktivitäten nicht: „Wahrscheinlich wäre es ihnen lieber, wenn ich statt einer Jägerin eine Expertin im Dungstampfen wurde.“ (S. 20)

Vertrauter und Freund ist Samkad, mit dem sie das Geheimnis des Jagens teilt. Als dies auffliegt, beugt er sich dem unausgesprochenen Willen der Ältesten und schlägt die Heirat vor, großzügig würde er ihr erlauben, zu jagen so viel sie will. Das ist für die freiheitsliebende Luki inakzeptabel, wütend sagt sie NEIN und läuft schnurstracks zur Schule, um sich für die Reise nach Amerika anzumelden. Überraschend trifft sie dort Tilin mit ihrer kleinen Schwester Sidong und auch Samkads Adoptivbruder Kinyo, die sich ebenfalls auf die Liste von Truman Hunt eintragen lassen wollen. Hunt - eine reale historische Person - wirbt und organisiert die Reise in „Gods own country“ mit den schönsten Versprechungen: Präsident Roosevelt persönlich hätte sie eingeladen und die Amerikaner seien begierig darauf die Igorot in ihrem Dorf auf der Weltausstellung zu sehen und zu erfahren, wie sie leben. „Das wird großartig. Das wird ein Abenteuer!“ versichert er ihnen.

Die Reise beginnt zu Fuß über die Berge ins Tiefland und weiter nach Manila. Im Hafen entdeckt Luki zu ihrer großen Überraschung Samkad. Zornig und unbeherrscht wirft sie ihn über die Reling ins Meer, um gleich darauf zu bereuen: „Was hatte ich getan, Mutter? Was fiel ihm ein, sich in mein Leben zu drängen, als würden meine Wünsche nicht zählen?“ (S.81) Der Vorfall hat ein Nachspiel und hier zeigt sich schon Hunts wahre Haltung zu den Igorot, versichert er dem Kapitän der Shawmut doch, dass „die Wilden“ wie Kinder seien, freundlich und harmlos und nicht gewalttätig, wie es die Zeitungen schreiben“.

Im Zwischendeck des Schiffes verbringen sie die dreimonatige Ozeanreise in die USA. Immer wieder besiegt Luki im Zwiegespräch mit ihrer Mutter, gelegentlich aufkommende Zweifel an der Reise. Sie teilt mit ihr ihre widersprüchlichen Gefühle für Samkad: „Wie konnte ich nur so dumm sein, Mutter. Weshalb behauptete ich, dass ich ihn nicht wollte und hatte trotzdem das Bedürfnis, ihn zu sehen.“ (S.89)

 

In Tacoma an der Ostküste der USA angekommen, haben sich Menschenmengen versammelt, starren die Igorot an, wollen sie anfassen, berühren und werden nur von Polizisten zurückgehalten. „“Ich bin mir nicht sicher, ob sie uns umarmen oder fressen wollen“, flüsterte ich Tilin zu.““ (S. 92)

Weil alle in der Kälte des Winters in ihrer dünnen tropischen Bekleidung frieren, bietet ihnen Hunt warme Mäntel aus dem Fundus von Bestattungsunternehmen an. Samkad lehnt das empört ab: „Wir dürfen die Toten in diesem Land nicht kränken.“ (S. 92) Die Mädchen nehmen die Mäntel trotzdem, aber als dann während der Zugfahrt einige Igorot sterben und Luki von Geistern träumt, die ihre Mäntel wiederhaben wollen, werfen sie diese weg. Luki kann kaum glauben, was Hunt zu einem Bediensteten der Railway als Erklärung für das Fehlen warmer Kleidung sagt: “Sie sind lieber nackt als warm.“ (S. 107)

Tilin ist Lukis enge und beste Freundin und Sidong, die leidenschaftlich gerne malt, ist für sie wie eine kleine Schwester geworden. Tilin hustete schon auf der Zugfahrt und erkrankt in St. Louis schwer. Luki und Samkad versuchen alles, um zu erreichen, dass die Geister sie nicht holen. Weil das nicht gelingt, lässt Hunt sie abholen und verspricht, sie in ein Krankenhaus zu bringen. Das erweist sich später als Lüge.

 

Tatsächlich war der historische Truman Hunt ein windiger und betrügerischer Geschäftemacher, der an der Ausbeutung der Igorot durch die Zurschaustellung in Igorot-Dörfern und auf Jahrmärkten ein Vermögen verdiente. Er wurde von den Igorot verklagt, auch verurteilt, kam aber schnell wieder frei.

 

Durch eine kleine Flucht aus der Enge des Igorot-Dorfes im Ausstellungsgelände, das sie nicht verlassen darf, trifft sie auf die junge Artistin und Reiterin Sadie, die in einer Wildwest-Show auf dem Gelände auftritt und sie als Helferin in ihrem Zelt von Hunt gegen Geld „ausleiht“. So ist Luki endlich – in westliche Kleider gesteckt und in Begleitung von Johnny aus der Philippinischen Gendarmeriekapelle– auf dem weitläufigen Gelände der Ausstellung unterwegs und freut sich an den Vergnügungsgeschäften und all den Sehenswürdigkeiten. Mit Sadie erlebt Luki einige schöne und aufregende Tage, wird sogar Teil des Auftritts. „Wir sind wie Schwestern!“ sagt Sadie. Luki ist glücklich und ist sich gewiss, dass ihr Leben nie mehr dasselbe sein würde, nachdem sie so viele neue und aufregende Dinge gesehen hatte. Weibliche Solidarität und viele Gemeinsamkeiten der beiden lassen den latenten Rassismus Sadies zunächst unsichtbar bleiben.

In einer dramatischen Szene macht Luki eine heftige Erfahrung mit dem kolonialistischen, menschenverachtenden Rassismus der weißen Amerikaner: Sie ist mit Johnny und seiner weißen Freundin Mabel unterwegs und sie werden von zwei Soldaten belästigt und beleidigt. Als einer den Knüppel schwingt, geht Luki dazwischen und wird fast bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt. Glücklicherweise kommt Leutnant Loving dazu, befreit sie, stutzt diese „Bauerntölpel“ zurecht.

 

Walter Loving ist eine reale historische Person. Er war der Sohn versklavter Eltern und dirigierte 1904-1915 die Philippinische Gendarmeriekapelle. Damals herrschte Apartheit bzw. Rassentrennung und die Herkunft des Dirigenten wurde in den Zeitungsberichten auffallend heruntergespielt.

 

Gourlay erzählt diese Geschichte im Kapitel „Mabel“ so anschaulich, so authentisch, dass man sie wie in einem Film vor sich sieht. Er warnt Johnny vor Kontakt mit den Weißen, weist ihn zurecht und macht ihm klar, dass er nur knapp einem Lynchmord entgangen ist: „Sieh dir deine Haut an, Sohn. Sieh dir ihre an. Du bist farbig. Sie ist weiß. In Amerika dürfen farbige Männer nicht mit weißen Frauen ausgehen“ (S. 222)

Luki ist die Vorstellung, „die Welt nach Hautfarben einzuteilen“ völlig fremd, ja, es scheint ihr eine Verrücktheit.

Immer mehr Igorot lassen sich von Hunt für Geld für die Zeit nach der Ausstellung für seine Vorführungen gewinnen und Luki erkennt, dass es nicht die Amerikaner oder gar der Präsident ist, der sie kennenlernen will, sondern „was Hunt den Amerikanern zeigen wollte, war seine Vorstellung von uns.“ (S. 235)

Hunts Haltung wird ihr schließlich schmerzlich klar, als sie erfährt, dass er ihre Freundin Tilin in einer verwahrlosten Krankenanstalt hat sterben lassen, und es noch dazu vor ihnen verheimlichte, so dass sie ohne Begleitung und Rituale in die „unsichtbare Welt“ gehen musste: „Niemand war da gewesen, um bei ihr zu sitzen und den Geistern zu zeigen, wie kostbar sie war.“ (S. 262) Lukis Trauer ist unermesslich und sie hat große Schuldgefühle „ich hatte sie verraten“. Und sie erzählt es allen.

Im vierten und letzten Teil des Romans durchlebt Luki einen intensiven Trauerprozess um Tilin und erlebt beim Besuch des Präsidenten wie Samkads Bruder Kinyo sich ihm zu Füßen legt und ihm seine Axt übergeben will. Sie erträgt diese Unterwerfung nicht und vor ihren Augen entzaubert sich Präsident Roosevelt zu einem alten Mann, der nicht besonders beeindruckend aussieht mit den Krümeln auf dem Schnurrbart und den Schweißtropfen auf seiner Stirn.

Es ist Zeit zu gehen und sie klagt der Mutter: „Sieh doch nur, was ich getan hatte, Mutter! Samkad war mir nachgejagt, um mich zu beschützen und was hatte ich getan? Ich hatte ihn in eine Falle gelockt. Ja, Mutter, genau das war die Weltausstellung: eine Falle! Sie verwandelte jeden in eine verzerrte Version seiner selbst.“ (S. 286) Aus dieser hat sich Luki befreit und so wird sie mit Samkad und Sidong im Dorf Zuhause mit einem Fest empfangen. Und besonders tröstlich ist, dass Sidong durch ihre Zeichnungen ihre Schwester mitgenommen hat: „Tilins Geist wohnt in Sidongs Bleistiftstrichen. Sie hatte ihre Schwester durch ihre hartnäckige Erinnerung nach Hause gebracht.“ (S. 304)

Der Roman entfaltet seine große erzählerische Kraft vor allem durch die Zwiesprache der Hauptfigur Luki mit ihrer verstorbenen Mutter. So ist die Mutter durchgängig im Roman immer präsent und teilt Lukis Sorgen, Zweifel, Gedanken und Gefühle durch ihre imaginäre Anwesenheit. Wie ein imaginäres Tagebuch (z.B. Kitty für Anne Frank) vertraut sie sich offen, nachdenklich und selbstkritisch an.

Gourlay erzählt Lukis Geschichte mitreißend und sinnlich – insbesondere bei der Jagdszene zu Beginn hat man das Gefühl, die Bäume, das Moos, denWald zu riechen, das Knacken der Äste zu hören, Lukis Atmen zu spüren und den Todeskampf des Keilers hautnah mitzuerleben.

Die historischen Ereignisse rund um die Weltausstellung 1904 sind belegt, wenn auch nicht ausreichend erforscht. Gourlays sorgfältige Recherche dokumentiert sie im Nachwort mit vielen Hinweisen und einem Literaturverzeichnis. Der Ausstellungsplan (bis in winzigste Beschriftungen lesbar!) ziert den Vor- und Nachsatz des gebundenen Buches. Überzeugend ist zudem die erzählerische Verbindung von fiktionalen mit realen historischen Figuren und die Ausgestaltung der Charaktere in den vielen Dialogen, wie oben zu lesen ist.

Auch das sprachliche „Dazwischensein“ der Figuren kommt vor: wie bei Luki, der „die Worte nicht immer so aus dem Mund purzeln, wie sie sollen“ im Englischen oder Kinyo, „dessen Mund sich mit Tieflandwörtern gefüllt hat“ oder Johnny der zwischen Spanisch und Englisch switcht.

Mehr als verdient hat „Wild Song“ den Luchs des Monats Juli erhalten

Candy Gourlay ist im Rahmen des Gastlandauftritts der Philippinen auf der Buchmesse Frankfurt 2025 seit Juli in Deutschland unterwegs mit Lesungen und Workshops. Auf der Messe ist sie im Gastland-Pavillon noch am Samstag 18.10.2025 im Gespräch zu erleben.

Auf der internationalen Jugendbuchmesse Berlin war sie zu Gast und 3-Sat hat einen tollen Film dazu gemacht, den ich unbedingt empfehlen möchte.
https://www.3sat.de/ultur/kulturzeit/die-philippinische-jugendbuchautorin-candy-gourlay-100.html


Foto:

Umschlagabbidlung

Info:
Candy Courlay


Angelika Schmitt-Rößer (AJuM Hessen)