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Kategorie: Bücher

Serie: Zum 200. Geburtstag der Institution des englischen Großschriftstellers Charles Dickens, Teil 2  

 

Claudia Schulmerich  

 

London (Weltexpresso) –Die wichtigste Erkenntnis in dieser unterhaltsamen und gleichwohl wissenschaftlich fundierten Jubiläumsausstellung ist, daß Dickens und seine reichhaltige Literatur ohne genaue Kenntnis und darum auch Schilderung von London gar nicht denkbar ist, genauer: daß sich Dickens in nächtlichen Spaziergängen London zu eigen machte und Viertel für Viertel abklapperte und alles in seinem Gedächtnis gespeichert hatte, wenn es ans Schreiben ging.

 

Dieser unauflösliche Zusammenhang durchzieht die Ausstellung, von den großen Stadtteilkarten, über die nächtlich klappernden Schritte und dann die dazugehörigen Texte in den Vitrinen, die also das wirkliche Leben dieses Charles Dickens uns verfügbar machen. Ein rechter Kerl, dieser Herr, der auch deshalb auf sein bürgerliches Ambiente so viel Wert legte, weil er mit seinem hochherzigen Eintreten – per Literatur – für eine kindgerechte, ja menschengerechte Lebens- und Arbeitsweise im frühkapitalistischen und dann gleich hochkapitalistischen England bisher vor uns verborgen hatte, daß er gute Gründe dafür hatte, nämlich biographische.

 

Auch er war einer, der noch als elfjähriger Junge aus dem Behütetsein geworfen wurde und sich und die Seinen mit dem Aufkleben von Etiketten auf Schuhwichse über Wasser halten mußte. Sagt Ihnen das was? Genau, auch David Copperfield, sein vielleicht doch berühmtester Roman -oder doch Oliver Twist?-, klebt Etiketten. Aber schon gehobener, nämlich auf Weinflaschen. Sein Leben lang hat Dickens über seine Kindheit geschwiegen – und darum soviel über Kindheiten in London und die Notwendigkeit guter Schulbildung geschrieben? Man erhält tatsächlich einen anderen Blick auf Charles Dickens, wenn man sich diese Ausstellung anschaut, durchliest, betrachtet, interpretiert.

 

Als Charles John Huffam Dickens geboren am 7. Februar 1812 im Süden Englands, kommt er 1820 durch die dienstliche Versetzung seines Vaters nach London. Und bleibt. Die Familie lebt in Camden Town – den Kunstinteressierten durch den Malerkreis um die Jahrhundertwende bekannt - , aber der Vater kann die acht Kinder und Frau nicht ernähren, kommt ins Schuldgefängnis und die Ehefrau mit sieben Kindern gleich mit. Der Achte – obwohl Zweitgeborene – ist Charles, der Hilfsarbeiten ausführt, um die Mutter finanziell zu unterstützen.

 

Im Auf und Ab dieser Jahre - der Vater macht eine Erbschaft und der Sohn sieht ihn zwiespältig und 'verwertet' ihn im Mr. Micawber und auch William Dorrit - geht er mal wieder zur Schule, dann aber als 15jähriger direkt als Schreiber in eine Rechtsanwaltskanzlei, wo er auf genug Typen stößt, die ihm später Anreize zur literarischen Verwertung geben. Zugleich ging er ins Britische Museum – der dortige Lesesaal ist hoch heute die Seele des Landes -, lernte Stenographieren und arbeitete schon bald als Gerichtsreporter. Schreiben tut er nebenbei und bringt 1833 seine erste Kurzgeschichte heraus und steigt als Journalist auf.

 

Schon mit 24 Jahren ist er ein anerkannter Schreiber der seine Glossen – Pseudonym Boz – hat und sich mit Catherine Hogarth, der Tochter seines Chefs, eines Zeitungsverlegers,  zu heiraten traut. Das Trauen hat weniger  mit der Frau, als mit der sozialen Situation zu tun, denn aber jetzt hat er auch häuslichen Druck zum Geldverdienen, denn die Ehe ist  mit 10 Kindern gesegnet, Catherine wohl auch dementsprechend verbraucht, auf jeden Fall ist es kein Ruhmesblatt für unseren Großschriftsteller, daß er sie 1858 verläßt – offiziell, denn inoffiziell hat er schon länger seine sehr viel jüngere Geliebte, die Schauspielerin Nelly Ternan.

 

Tatsächlich gelang es Dickens, diese zeitlebens zu verstecken und 80 Jahre lang blieb diese Beziehung ein Geheimnis. Das alles erfahren wir gleich zu Beginn, wo neben den Schriftstellerkollegen, die ihn bewunderten, auch Künstler versammelt sind wie John Everett Millais, die zu seinen Freunden gehörten, als Herz des viktorianischen Englands. Das große Interesse der Öffentlichkeit und seiner Künstlerkollegen aber resultiert aus seinem schriftstellerischen Werk, auf das der nächste Ausstellungsbericht basiert.

 

Ausstellung bis 10. Juni 2012  

 

Literatur:  

Statt eines eigenen Kataloges verweist das Museum auf das Buch DICKENS’S VICTORIAN LONDON 1839-1901, von Alex Werner und Tony Williams. Auf den Katalog hat man verzichtet, weil die vielen Ausstellungsstücke dann zu den jeweiligen Leihgebern zurückwandern und die Darstellung des sinnlich Wahrnehmbaren schwer schriftlich wiederzugeben ist. Das ist richtig und dennoch schade.

 

Wir stützen uns auf unsere 15 teiligeWinkler Dünndruckausgabe. Tatsächlich sind alle Bücher gelesen, das sieht man noch heute, aber wann, das wissen wir nicht mehr. Allerdings nicht als Kind. Das nämlich ist ein Märchenglaube, daß Dickens ein Kinder- oder Jugendschriftsteller sei. Sein einziger Versuch in dieser Richtung scheiterte kläglich. Groß ins Geschäft kommen die neue Ausgabe von GROSSE ERWARTUNGEN im Hanser Verlag (und der gleichnamige Film von David Lean) und DER SCHWARZE SCHLEIER:NEUENTDECKTE MEISTERERZÄHLUNGEN aus dem Aufbau Verlag.  

 

Seit 1870, seinem Todestag, sind über 200 Biographien über Dickens erschienen. Derzeit wird die neueste von Hans-Dieter Gelfert CHARLES DICKEN, DER UNNACHAHMLICHE im Verlag C.H. Beck angeboten. Die Biographin, die am sichersten zu Hause im 19. Jahrhundert in England ist, Claire Tomalin, arbeitete seit Jahren an einer umfassenden Biographie zu Dickens, die nun herauskam: CHARLES DICKENS. A LIFE . Bisher hatte sie auch Frauen in seinem Umfeld porträtiert und vor allem über die versteckte Geliebte Nelly Ternan ein Buch als UNSICHTBARE FRAU geschrieben.

 

William Raban, ein experimenteller Dokumentarfilmer, hat für das London Museum einen Filmessay zusammengestellt, THE HOUSELESS SHADOW, in dem wir das London von heute bei Nacht sehen, wozu die entsprechenden Texte von Dickens ertönen, der sich nächtlich durch London bewegte und dies mit fotografischem Gedächtnis beim Schreiben wiedergeben konnte.