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Kategorie: Film & Fernsehen
go Aurora borealis 18 franciskaVom 18. bis 24. April 2018 gibt das goEast-Festival in Wiesbaden zum 18. Mal einen Einblick in die mittel- und osteuropäische Filmszene, Teil 14

Kirsten Liese

Wiesbaden (Weltexpresso) - Wie die Vergangenheit in die Gegenwart eindringt, schildert auch Márta Mészáros, die alte große Dame des ungarischen Kinos, bewegend in ihrem komplexen Frauendrama Aurora Borealis. In dessen Zentrum steht die alte Migrantin Maria, die überraschend in ein Koma fällt und sich nach ihrem Erwachen belastenden Geheimnissen stellen muss, denen ihre Tochter, eine Wiener Anwältin, auf die Spur kommt.

Eine Frau namens Edith bildet den Schlüssel zu der schmerzreichen Familiengeschichte. Die längst Verschollene war einst Marias beste Freundin und die Cousine ihrer großen Liebe. In Rückblenden erzählt Mészáros einfühlsam, wie sie sich nach Kriegsende kennenlernten, als Maria aus dem sowjetisch besetzten Ungarn geflohen war, aber nach einer Vergewaltigung durch einen Russen alleine in Wien ankam, weil ihr Liebster an der Grenze erschossen wurde. Zeitgleich schwanger, entbanden die Freundinnen in einem österreichischen Kloster. Aber dann trennten sich aufgrund weiterer schwieriger Umstände ihre Wege und Maria, allein gelassen mit zwei Babys, musste eine schwierige Entscheidung treffen.

Den Frauen gab das 18. GoEast, dem mit der Niederländerin Heleen Gerritsen eine neue Leiterin vorsteht, erfreulicherweise insgesamt viel Raum, sie waren auch als Regisseurinnen in Wiesbaden zahlreich vertreten. Und berührten einen sehr mit teils unfassbaren Biografien. Eine darunter ist die von Marish, die als moderne Sklavin ohne Lohn in einem Privathaushalt von früh bis spät arbeitet, selbst das Geld, das sie nebenher in einer Fabrik verdient, ihrer selbst ernannten Herrin abgeben muss und permanent noch beleidigt wird als eine nutzlose Person. Zwar erst 53 Jahre alt, sieht die verbrauchte, geschundene Mutter, der keine Zeit vergönnt ist, ihre Kinder zu besuchen, wie 70 aus.

Eine gefangene Frau (Regiepreis und Fipresci-Kritikerpreis) ist kein gewöhnlicher Dokumentarfilm, die ungarische Regisseurin Bernadette Tuza-Ritter konnte ihn nur beginnen, indem sie die Sklavenhalterin dafür bezahlt hat, in ihrem Haus filmen zu dürfen. Zudem schwand während der Dreharbeiten zwischen der Regisseurin und ihrer Protagonistin die Distanz. Die Frauen wurden Freundinnen, und Tuza-Ritter unternahm die Initiative, Marish aus ihrem Sklavendasein zu befreien.

Marishs unglaubliches Schicksal geht noch umso mehr an die Nieren, als es sich um keinen Einzelfall handelt, allein in Europa soll es rund 1,2 Millionen Menschen geben, die unter ähnlichen Umständen in Privathaushalten arbeiten.

Gleichwohl hat sich die Jury mit dem Regiepreis, der weniger die Relevanz eines Themas, sondern die künstlerische, markante Handschrift eines Werks auszeichnen soll, etwas vergriffen. Der Preis des Auswärtigen Amtes für kulturelle Vielfalt, den mit Druga Strana Svega (Die andere Seite von allem) ein handwerklich solider, aber weniger interessanter Dokumentarfilm aus Serbien gewann, wäre jedenfalls eine bessere Option gewesen. Und eine noch bessere ein gesonderter Dokumentarfilmpreis, den das Festival leider seit einigen Jahren nicht mehr vergibt. Er hätte womöglich die Aufmerksamkeit für die Dokumentarfilme erhöhen können, deren Perlen die Jury übersah: Ohne Musik und Kommentar, durchwirkt von kuriosen Szenen und betörend schönen, poetischen Bildern in den ursprünglichen Wäldern Litauens, in denen der Mensch als Eindringling nur stört, überragte der meditative, poetische Tierfilm Sengire (Der Sagenwald) alles, was das osteuropäische Kino bislang auf diesem Gebiet hervorbrachte.

Foto:
Aurora Borealis © goEast

Info:
https://www.filmfestival-goeast.de/de/industry/einreichung.php