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Kategorie: Film & Fernsehen
Bildschirmfoto 2022 07 06 um 22.39.04Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos von Mittwoch, 6. Juli 2022, Teil 2

Redaktion

Siegheilkirchen  (Weltexpresso) - Manfred Deix (1949–2016) wird im Nachspann von WILLKOMMEN IN SIEGHEILKIRCHEN als Art Director genannt. Wie sehr ist das als Hommage an die Inspirationsquelle und künstlerischen Mentor dieses Films zu verstehen oder als ein Verweis auf ein Drehbuch, das der Künstler zu seinen Lebzeiten entworfen hat?

Manfred Deix hat zu Lebzeiten das Drehbuch abgenommen und durch seine Lebensgeschichte viele dramaturgische Ereignisse geliefert. Aber noch mehr als dramaturgisch hat er uns mit seinem Casting bereichert: Alle Figuren in WILLKOMMEN IN SIEGHEILKIRCHEN sind ja seinem Schaffen entnommen. Wir haben nur ganz wenige Figuren neu kreiert. Mir war schnell klar: Das ist mein Thema – die Geschichte eines Rotzbuben, der sich mithilfe seines zeichnerischen Talents gegen die Etablierten des Dorfes emanzipiert. Poetisch, rotzfrech, derb und überraschend.


Welche neuen Herausforderungen kommen auf einen zu, wenn man auf Erfahrung im Spielfilm zurückgreifen kann, aber erstmals ein Animationsfilmprojekt in Angriff nimmt?

Für mich war dieses Animationsprojekt eine völlig neue Erfahrung. Alleine hätte ich es nie geschafft. Daher kam vor ein paar Jahren Santiago López Jover als Co-Regisseur an Bord, der ein klares Know-how und sehr viel Gefühl für die Figurenumsetzung mitgebracht hat. Die Figuren habe ich übrigens vom ersten Augenblick an behandelt wie in einem normalen Spielfilm. Viele Tätigkeiten sind gleich dem Realfilm: Bucharbeit mit den Autoren, Fragen der Umsetzung, Erstellung eines Storyboards mit einem Storyboardzeichner und vieles mehr. Aber eine völlig neue Erfahrung war, dass wir wirklich alles „herstellen“ mussten. Wir haben uns das Dorf Siegheilkirchen zur Gänze nach unseren Vorstellungen erschaffen. Dafür gab es in der Produktion großartige Denker, Zeichner und Autoren, mit denen das Ganze in Teamarbeit gewachsen ist.


Der Film erzählt eine Kindheit in der niederösterreichischen Provinz in der Nachkriegszeit, die gewiss auch eine Erklärung für Deix‘ Sicht auf Österreich liefert. Waren die Figuren in seinen Karikaturen vielleicht gar nicht so schwer in Filmcharaktere zu verwandeln, weil sie eine Vielschichtigkeit, eine Persönlichkeit haben?

Das trifft auf alle Fälle zu. Die Figuren in Manfred Deix‘ Karikaturen haben Tiefe und Charakter. So abstoßend einer sein mag, da ist immer noch der Reiz, dass man ihm zuschaut, was im Umkehrschluss auch bedeutet, dass man auch eine gewisse Sympathie ihm gegenüber hegt. Deix schafft es, die inneren Werte nach außen zu stülpen.


Sehr beeindruckend gelöst sind die Schäbigkeit der Orte, die typisch für die Nachkriegszeit ist und auch die Gesichter der Figuren: Da sind einerseits die eigenwilligen Deix‘schen Physiognomien, aber auch das Gesicht von Mariolina, die ein schönes Mädchen ist, ohne an den perfekten Gesichtsausdruck der Disneyfiguren zu erinnern.

Schon lange vor der Debatte, die jetzt in aller Munde ist, waren in meinen Filmen immer starke Frauenfiguren zu sehen. Natascha, die Mutter von Mariolina, ist an Marietta Deix angelehnt und es war uns ein besonderes Anliegen rüberzubringen, dass neben unserem Rotzbuben, der ja recht unsicher ist, der eigentliche „Rotzbua“ Mariolina ist. Beim Dorf war es uns wichtig, dass es nicht zu picobello ausschaute, man sollte ständig spüren, dass die Fassade bröckelt und das Fragile in der Gesellschaft spürbar wird. Man sollte merken, was ist Schein und was ist Sein. Der Wunsch nach Authentizität war natürlich mitbestimmend.


Hat sich die Animation als das ideale Medium erwiesen, um einem Künstler wie Manfred Deix gerecht zu werden?

Das war auf alle Fälle ausschlaggebend. Deix ist ein ganz großer Künstler. Und ich bin auch sehr stolz, dass die Produzenten auf mich zugekommen sind, um mir vorzuschlagen, dabei zu sein. Ich habe selbst sehr viel Zeit an solchen Wirtshausstammtischen, wie es in Siegheilkirchen einen gibt, verbracht und hab diese Eindrücke auch in WER FRÜHER STIRBT, IST LÄNGER TOT eingebaut. Diese Welt war mir nicht fremd. Ich habe mich da schon daheim gefühlt. Was in diesen Figuren von Deix drinnen steckt, das gilt auch für uns in Bayern genauso. Eh klar.



ÜBER MARCUS H. ROSENMÜLLER
Marcus H. Rosenmüller wurde 1973 in Tegernsee, Bayern geboren. 1995 bis 2003 studierte er an der Hochschule für Fernsehen und Film München (HFF München) und drehte seinen Abschlussfilm HOTEL DEEPA im indischen Pune.

Zusammen mit Christian Lerch schrieb Rosenmüller das Drehbuch für seinen ersten Kinofilm WER FRÜHER STIRBT IST LÄNGER TOT (2006), bei dem er auch Regie führte. Die Komödie über einen oberbayerischen Lausbuben und seine Angst vor dem Fegefeuer lockte über die bayerische Landesgrenze hinaus deutschlandweit fast zwei Millionen Zuschauer in die Kinos. 2011 kam Rosenmüllers SOMMER IN ORANGE in die Kinos, eine Komödie über eine Gruppe von Berliner Bhagwan-Anhängern, die in ein kleines oberbayerisches Provinzdorf ziehen.

Einen internationalen Erfolg feierte Rosenmüller mit dem Spielfilm TRAUTMANN (THE KEEPER, 2018), in dem David Kross die Rolle des legendären deutschen Manchester-City-Torwarts Bert Trautmann spielte. Seit 2020 teilen sich Julia von Heinz und Marcus H. Rosenmüller den Lehrstuhl für Spiel- und Fernsehfilm an der HFF München.

WILLKOMMEN IN SIEGHEILKIRCHEN ist der erste Animationsfilm, bei dem Markus H. Rosenmüller Regie geführt hat. Zuletzt drehte Marcus H. Rosenmüller den Spielfilm BECKENRAND SHERIFF mit Milan Peschel in der Hauptrolle, der im September 2021 in den Kinos startetE.

Foto:
Pandora-Film

Info:
„Willkommen in Siegheilkirchen! Der Deix-Film“ Marcus H. Rosenmüller & Santiago Lopéz Jover (Regie), Österreich / Deutschland 2013 - 2021, 85 Minuten, FSK 12
Abdruck aus dem Presseheft