Hanswerner Kruse
Berlin (Weltexpresso) - Orientalische Musik. Tanzende Menschen. Die Kamera führt uns direkt in eine arabische Hochzeitsfeier. Eine fröhlich hüpfende, flatternde junge Frau wird von ihrer Mutter in einer, uns fremden Sprache barsch zurechtgewiesen. Durch die Untertitel erfahren wir, sie solle sich zurücknehmen, denn sie sei schließlich verlobt.
Im Klo fragen sich die jungen Mädchen auf deutsch: „Hast du schon mal?“ Bald erkennen wir, dass die Feierlichkeiten nicht im Nahen Osten stattfinden, sondern in einer Stadt im Ruhrgebiet. Und die vermeintlich arabischen Muslime sind Kurden, aber von den gleichen mittelalterlichen Wertvorstellungen besessen.
Eine Filmstunde später schreit die junge Frau endlich zurück: „Und wenn ich eure Ehre nicht mehr zwischen den Beinen habe?“ Dann will die Mutter lieber eine tote Tochter! Vorher konnten wir miterleben, wie die bereits 22-jährige Elaha (Bayan Layla) verzweifelt versuchte, ihr Jungfernhäutchen chirurgisch wieder flicken zu lassen. Doch den Preis von mehreren Tausend Euro kann sie nicht aufbringen. Ein Versuch mit einem Blutmittel für die mögliche Hochzeitsnacht funktioniert nicht. Ihre lesbische, verheiratete, dunkelhäutige Lehrerin in der Berufsvorbereitung kümmert sich intensiv um sie, denn „ich weiß wovon ich rede“. Sie könnte ihr helfen, konfrontiert sie aber mit der Frage, „Bist du wirklich die Frau, die du sein willst?“ Schließlich befragt Elaha sich selbst, warum und ob sie das Hymen überhaupt zurückhaben will.
Sie soll nicht zwangsverheiratet werden, sondern findet ihren zukünftigen Ehemann und dessen Familie durchaus sympathisch. Das Aussuchen des Hochzeitkleides oder die Wohnungssuche mit dem Verlobten sind für sie selbstverständlich. Liebevoll kümmert sie sich um ihren kleineren behinderten Bruder. Aber je weniger sie sich in ihre vorgegebene Rolle als keusche Verlobte einfügt, mit ihren Freundinnen tanzen geht, freizügig kleidet oder das Abitur nachholen will, umso stärker terrorisiert der zukünftige Mann sie bereits vor der Ehe. „Ich gebe dir alle Freiheiten, aber ich will, dass du auf mich hörst“, sagt er. Dann schnüffelt er sogar an ihr, ob sie mit einem anderen Mann Sex hatte. Seine Familie fordert vor der anstehenden Hochzeit plötzlich eine ärztliche Untersuchung ihrer Jungfräulichkeit.
Bis dahin haben ihre erwachsenen Freundinnen und sie versucht, sich irgendwie zwischen westlicher Freiheit mit selbstbestimmtem Leben und den geliebten Familien, mit ihren repressiven patriarchalischen Regeln durchzuwinden. Doch nun erwacht Elaha, verändert sich behutsam, hinterfragt, rebelliert und spielt schließlich nicht mehr mit: Kurz vor dem Ende des Films zieht sie sich in einem Waschsalon nackt aus und stopft ihre gesamte Kleidung in eine Waschmaschine. Eine großartige Symbolik für das, was nun geschieht…
Bayan Layla trägt den ganzen Film, ist in jeder Szene präsent und zeigt uns glaubwürdig die dramatische Entwicklung der jungen Frau. Der Anspruch des Streifens ist sehr hoch: „Die Geschichte der Sexualität der Frauen ist eine Geschichte männlicher Deutungshoheit über den weiblichen Körper“, so Regisseurin Milena Aboyan. „Elaha ist die Geschichte über eine ungezähmte Frau, die stellvertretend für viele Frauen steht, die sich verpflichtet haben, niemals leise zu sein.“ Doch der politische Hintergrund erschlägt uns Zuschauer nicht, der auf der letzten Berlinale gestartete Film ist unterhaltend, berührend, spannend und manchmal
gar humorvoll.
Fotos:
© Camino Filmverleih
Info:
„Elaha“, D 2023, 110 Minuten, Filmstart 23. November 2023, Regie Milena Aboyan mit Bayan Layla, Derya Durmaz, NazmiKirik und anderen.