Drucken
Kategorie: Film & Fernsehen
202404654 0 RWD 2400 KopieInternationale Filmfestspiele Berlin vom 15. bis 25. Februar 2024, Wettbewerb Teil 19


Hanswerner Kruse

Berlin (Weltexpresso) – Ein mobiles Einsatzkommando (MEK) stürmt den Hochsicherheitstrakt in einer Vollzugsanstalt. Tränengas. Geschrei. Fußtritte. Handschellen. Es wird nach Drogen und Messern gesucht. Mit einem Aufschrei stürzt Wärterin Eva in die Zelle 017, prügelt und prügelt und prügelt mit einem Knüppel solange brutal auf einen Insassen ein, bis ein Polizist sie zurückreißt.


Es folgt eine interne Untersuchung, in der ihr Chef feststellt: „Sie hat ihre Pflicht getan.“ Dagegen behält sich die Anwältin eine Anzeige ihres Mandanten gegen die Aufseherin vor.

Bis kurz vorher arbeitet Eva (Sidse Babett Knudsen) im erleichterten Vollzug und ist bei den Häftlingen beliebt, die sie alle morgens freundlich weckt. In Konflikten kann sie sich gut durchsetzen, hilft den Gefangenen bei Alltagsproblemen und leitet die Entspannungsgruppe („Yoga“).  Doch eines Tages wird sie auf einen neuen Häftling aufmerksam, der sofort in den Hochsicherheitstrakt geschafft wird. Er kommt ihr bekannt vor und sie bittet um Versetzung in diesen Bereich. Sie recherchiert die Geschichte des Mannes und kriegt schließlich Gewissheit, er ist der unbarmherzige Mörder ihres Sohnes.

Von nun an demütigt und provoziert Eva ihn, bis er immer wieder ausrastet, um sich schlägt oder sie mit Kacke beschmeißt, weil sie seinen Wunsch nach einem Klogang ignoriert. Das bringt dem Gewalttäter namens Mikkel (Sebastian Bull) Einzelhaft und andere Zwangsmaßnahmen ein. Doch nach dem Einsatz des MEK, durch die Androhung der anwaltlichen Klage, ist Eva unter Druck und versucht, sich mit Mikkel zu arrangieren. Langsam kehren sich die Machtverhältnisse um: Sie setzt sich für ihn ein, muss sich notgedrungen für ihn engagieren, weil ihr Übergriff sie selbst in den Knast bringen könnte. Schließlich schafft sie es sogar, für den verurteilen Mörder einen Freigang zu erwirken, der in einem Fiasko endet…

Die Filmkamera, die Überwachungsgeräte, die Architektur, die langen Gänge und alle handelnden Personen sind in diesem Film letztlich kalt und distanziert. Manchmal wirken die Filmbilder unscharf oder unvollständig, wie von Überwachungskameras aufgenommen. Mit zahlreichen Regeln und Tabus funktioniert das System, besonders in der Hochsicherheit, das Michel Foucault einst als „Überwachen und Strafen“ charakterisierte. Blutige Rache, gruselige Strafen kommen seitdem – in aufgeklärten Gesellschaften - nicht mehr vor.

Hier in der Haftanstalt fallen beide, Mikkel durch seine archaische Wut und Eva durch ihre archaischen Rachegelüste, aus dem System heraus. Die Decke unserer Zivilisation ist recht dünn, in ihrem Gewaltrausch kann Eva nur von dem MEK-Mann gestoppt werden. Selbst als eigentlich distanzierter Zuschauer wird man von Eva mit in ihre Wut hineingezogen, kann - erschrocken - Sympathie für sie entwickeln und sich darüber entsetzen.

Der Film spielt absolut (!) im hier und jetzt, er bildet nur ab, es kommen keine cineastischen oder erzählten Rückblenden vor, wir wissen absolut nichts von den beiden Protagonisten: Es gibt keine Informationen über die Kindheit und das Vorleben von Mikkel, wir erfahren fast nichts über Evas Privatleben. Es bleiben einem, wenn man denn will, nur Spekulationen und Fantasien über die beiden. Das Gefängnis ist eine in sich geschlossene Blase, ein Mikrokosmos – und der Streifen kein psychiatrischer Lehrfilm. Wir erfahren nicht, ob Eva eine unbehandelte „Traumatische Belastungsstörung“ hat oder Mikkel auf „Impulskontrollstörungen“ untersucht worden ist und vielleicht in die forensische Psychiatrie, also in den Maßregelvollzug gehört.

Der kalte, düstere Film lässt uns zurück mit den hoffnungslosen Worten von Evas Chef: „Manche sind einfach nicht resozialisierbar!“. Und wir fragen uns, kann man sie also nur wie wilde Tiere wegsperren? Wenn man in sich hineinspürt (was Eva immer in ihrer „Yoga“-Gruppe fordert), dann bleibt nach diesem Film zunächst einfach nur Hilflosigkeit. 

In der Pressekonferenz treten einem die beiden Kontrahenten Eva und Mikkel gegenüber – und es fällt sehr schwer, sie loszulassen und in ihnen „nur“ Schauspielerin und Schauspieler zu sehen. Aber das zeigt ja vor allem die gute Arbeit, die sie in dem Film geleistet haben. Sicher unterstützt von dem echten Gefängnis in Kopenhagen, in dem gedreht wurde - denn eine Anstalt mit ihren Strukturen macht ja was mit den Menschen (siehe Foucault). Die Filmemacher haben auch keine Antworten auf die Fragen, die sie selbst in ihrem Werk aufwerfen: Es existiert einfach der grundlegende Widerspruch zwischen den Polen Strafe und Resozialisierung, der immer wieder neu definiert und gelöst werden muss.

Foto:
Sidse Babett Knudsen als Eva Hansen © Nikolaj Moeller

Info:
„Vogter“,  Dänemark / Schweden 2024, 100 Minuten. Regie & Buch Sebastian Bull.

Besetzung
Sidse Babett Knudsen (Eva Hansen)
Sebastian Bull (Mikkel)
Dar Salim (Rami)
Marina Bouras (Helle)
Olaf Johannessen (Anstaltsleiter)
Jacob Lohmann (Priester)
Siir Tilif (Anwalt)
Rami Zayat (Ali)
Mathias Petersen (Simon)