
Willy Hans
Berlin (Weltexpresso) - „Die Hölle, das sind die anderen“ - dieser Schlüsselsatz aus Jean Paul Sartres Einakter Geschlossene Gesellschaft (1944) bringt für mich den Zustand, in dem sich die Figuren in meinem Spielfilm-Debüt Der Fleck befinden, auf den Punkt. Sie suchen Bestätigung im gegenseitigen Blick, schauen selbst gnadenlos auf das Gegenüber und werden so einander unfreiwillig zu Folterknechten. Und obwohl es keine offensichtlich bösen Absichten oder offensive Feindseligkeiten unter den Jugendlichen gibt, transportiert sich deutlich ein allumfassendes Unbehagen. Hier wird im Kleinen erprobt, was auch unter Erwachsenen geschieht.
Alle loten unbewusst und lauernd ihre Stellung aus, versuchen herauszufinden, wer wie zueinander steht, wo sich Allianzen bilden lassen, und wo Rivalitäten. Das zu beobachten, dieses hilflose Verbiegen, Maßregeln und Beäugen ist zum Heulen und zum Lachen gleichzeitig - allein weil es mit ein wenig Abstand betrachtet so absurd erscheint.
Dass es eine irdische Hölle gibt, ist in in der Welt des Atheisten Sartre sicher. Aber gibt es auch so etwas wie einen Himmel? Und was wäre das? Es wäre ein Blick, der uns nicht festlegt oder verurteilt, der nicht reduziert auf das, was wir wurden, sondern sich öffnet für das was wir werden könnten. Einen kleinen Einblick in diese
beginnt sich jenseits all der Apathie und des passiv-aggressivem Gelabers, im Laufe der fortschreitenden Erzählung etwas Hoffnungsvolles und Lebensbejahendes abzuzeichnen. Nachdem SIMON (17) und MARIE (17) plötzlich in das naturschöne Zwischenreich des Uferwaldes katapultiert wurden, beschleicht einen in der weiteren Erzählung zunehmend die Einsicht: Vielleicht haben wir die Wahl uns selbst und einander anders anzusehen, uns zu befreien von diesem ewigen Kreuzfeuer der Blicke und gegenseitigen Beurteilungen.
Und für einen Moment wird die Sicht frei auf eine Welt, die es zuvor für die beiden nicht gab - eine Welt jenseits des Elternhauses, des Internats, des kleinen Provinzkaffs und vor allem: frei von den Blicken der anderen. Und trotz allen Rumorens, trotz des widerspenstigen Unbehagens, das auch in der behaglichen Zweisamkeit zwischen SIMON und MARIE immer wieder aufblitzt, möchte ich so einen Ausblick auf etwas geben, was der existentiellen Einsamkeit unserer menschlichen Gegenwart etwas entgegen setzt. Die Erlösung liegt letztlich in der Begegnung.
Wie Simon, bin ich in meiner Jugend auf ein Internat gegangen und habe diese Zeit - wohl auch verstärkt durch die räumliche Trennung vom Elternhaus und dem gleichzeitigen Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter - als sehr befremdlich und mitunter verstörend empfunden. Eine verwirrende Zwischenwelt, in der es die alte, kindliche Welt plötzlich nicht mehr gab, und eine neue sich noch völlig im Verborgenen befand. So auch ergeht es SIMON, der nach seiner Flucht aus der Schule, nicht mehr wirklich zurück findet in die verlorengegangene Kindheit und der gleichzeitig keinen Platz zu finden scheint in der absurden Welt diesseits.
Tatsächlich hat mich dieses Gefühl der Entfremdung nie vollständig verlassen und zeigt sich mir am deutlichsten im beständigen Widerspruch zwischen dem Wunsch nach Kontakt und Gemeinschaft, dem starken Bedürfnis nach Begegnung und gegenseitiger Einlassung und der gleichzeitigen Sehnsucht nach Einsamkeit und Rückzug. Ein scheinbarer Gegensatz, der für mich jedoch in einer zunehmend individualisierten Gesellschaft allerorts widerhallt.
Wie auch meine bisherigen Arbeiten, habe ich Der Fleck auf 16mm Film gedreht. Die Körnung des Bildes, die charakteristische Farbwärme des Materials, sowie die geringe Tiefenschärfe, die das kleinformatige Bild mit sich bringt, unterstützen die fotografische, abstrakte Visualität des Filmes und verstärken das leicht verschrobene, eigenartige Idiom der gesamten Bildsprache. Einzelne Handlungs- oder Dialogpassagen finden im Kamera-Off
statt, manche Handlungsschritte werden ganz übersprungen und so die jeweiligen Szenen in wenigen, jedoch präzisen Einstellungen erzählt. Die Stringenz des chronologischen Handlungsverlaufs wird durch das visuelle Driften der Kamera immer wieder verlassen und betont dadurch die leicht entrückte Atmosphäre des Films, sowie das mystisch-verträumte Timbre des zweiten Teils. So entsteht, nicht zuletzt verstärkt durch die Verwendung von 16mm Film, ein »fotografische Atmen«.
Der Fleck ist eine vielschichtige und atmosphärische Geschichte, die mit leisen und zarten Tönen die Frage nach sozialer Zugehörigkeit, Identität und individuellem Anderssein aufwirft. Indem er sich auf die kleinen Details alltäglicher, aber subtiler zwischenmenschlicher Turbulenzen konzentriert, erzählt der Film von der Schönheit und dem Schrecken des menschlichen Zusammenlebens.
Foto:
©Verleih
Info:
DER FLECK
EIN FILM VON WILLY HANS
FRÜHJAHR 2025 IM KINO
2024 / Schweiz / Farbe / deutsch / 94 Min. /
mit Leo Konrad Kuhn, Alva Schäfer, Shadi Eck, Felix Maria Zeppenfeld, Darja Mahotkin, Malene Becker, Charlotte Hovenbitzer, Lasse Stadelmann, Ruby M. Lichtenberg, Sina Genschel, Rumo Wehrli, Matthias Neukirch, Michael Neuenschwander, Valentina Fischli, Anouk Barakat
Drehbuch, Regie und Schnitt Willy Hans