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Kategorie: Film & Fernsehen
mengelSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 23. Oktober 2025, Teil 11

Redaktion

Berlin (Weltexpresso) - Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Olivier Guez Roman „Das Verschwinden des Josef Mengele“ zu adaptieren?


Das wurde mir schon vor einiger Zeit vorgeschlagen, noch bevor der Roman ins Russische übersetzt wurde. Ich habe ihn also auf Englisch entdeckt. Sofort hat mich etwas an der Idee gereizt, ihn zu adaptieren, auch wenn die Aufgabe natürlich schwierig war… Was wird aus Kriegsverbrechern, wenn der Krieg vorbei ist? Gibt es so etwas wie eine göttliche Gerechtigkeit? Werden diese Menschen irgendwann von ihren Taten eingeholt? Die Frage nach Karma, Strafe, Gerechtigkeit – all das hat mich schon immer interessiert. Außerdem liefert das Buch von Olivier Guez dokumentarische Fakten und regt zugleich die Fantasie an: Es erlaubte mir, mir Vieles auszumalen, etwa die Begegnung zwischen Josef Mengele und sei-
nem Sohn, denn man weiß nicht, was dort gesagt wurde – es gab keine Zeugen.


Haben Sie bei der Adaption mit Olivier Guez zusammengearbeitet?

Ich habe das Drehbuch allein geschrieben und es dann Olivier Guez vorgelegt. Er hat einige Änderungen eingebracht und es schließlich abgesegnet. Für mich war wichtig, dass er zustimmt, da er so gut im Thema ist und lange dazu recherchiert hat. Ich selbst habe alles gelesen, was über Josef Mengele, über Auschwitz und über das Leben der Nazis nach Kriegsende geschrieben wurde.


Sie versetzen den Zuschauer in die Perspektive und im letzten Drittel des Films sogar in den Kopf von Josef Mengele. Warum?

Ich dachte an Hannah Arendt, die uns mit dem Begriff der „Banalität des Bösen“ bewusst machte, dass Monster nicht anders sind als gewöhnliche Menschen. Und der berühmte
Schauspiellehrer Konstantin Stanislawski sagte, dass man, wenn man einen Schurken spielt, seine guten Seiten suchen muss – und umgekehrt. Josef Mengele hat seine eigene Sicht der Dinge. In seinem Kopf sieht er sich überhaupt nicht als Verkörperung des absoluten Bösen. In Auschwitz gab es viele andere Ärzte – warum sollte gerade er das Sinnbild des Bösen sein?, fragt er sich. Er hat auf alles eine Antwort, er behauptet, die Nazis hätten sich um das Volk gekümmert. Aber man darf nicht vergessen, dass das Nazi-Regime die Vernichtungslager errichtet hat, die Millionen Opfer forderten. Dieser Krieg war der schlimmste, den die Menschheit je erlebt hat. Ich wollte in seinen Kopf schauen und seine menschliche Seite spüren, die, die ihn von anderen nicht unterscheidet. Wie wurden gebildete, bürgerliche Menschen, Menschen, die Poesie und Musik kannten, zu Monstern?

Inspiriert hat mich hier Jonathan Littells außergewöhnliches Buch „Die Wohlgesinnten“, das im Grunde der Monolog eines SS-Offiziers ist. Es war für mich ein schockierendes Erlebnis – zum ersten Mal befand ich mich im Kopf eines Nazis. Das hat mir dabei sehr geholfen, die Denkweise zu verstehen. Das Ganze war eine komplexe, schmerzhafte Erfahrung. Meine Absicht war, dasselbe zu tun: die Kamera und damit die Zuschauer in das Gehirn von Mengele zu versetzen und seine Motivation zu zeigen. Es geht darum, den Zuschauer aufzufordern, die Maske Mengeles aufzusetzen, um zu verstehen, dass der Weg vom gewöhnlichen Menschen zum Verbrecher und Sadisten erschreckend kurz sein kann. Und vor allem wollte ich auf keinen Fall Mitgefühl für diesen Mann erzeugen. Für Mengele ist Mitgefühl unmöglich. Man darf nicht mit ihm mitleiden.


Wie ist ihr Verhältnis zum Deutschland der Nazi-Zeit?

Für den Film habe ich viele Gespräche mit Deutschen geführt, die mir von ihrer Vergangenheit erzählten. Ich bin weder Deutscher noch deutschsprachig, also musste ich viel über das deutsche Nachkriegsleben lernen – über Familien, das Erbe der Niederlage, das Schweigen. Ich habe Schauspieler, Journalisten, Freunde, Produzenten befragt – fast 30 Personen – um die Geschichten über ihre Großeltern zu hören, wie sie sich während und nach dem Krieg verhielten. Viele haben geschwiegen. Das ist ein sehr schmerzhaftes Thema. Aber vielleicht hat der Film das Potenzial, eine große Debatte auszulösen. Das wäre gut.


Sie zeigen auch all jene, die Mengele in Argentinien und später in Brasilien geholfen haben…

Es gibt das berühmte Zitat von Sartre: „Die Hölle, das sind die anderen.“ Die Hölle, das ist nicht nur Mengele. Mit diesem Film wollte ich vor allem das kollektive System namens „Mengele“ begreifen. Es war mir wichtig, die Menschen um ihn herum zu zeigen – diejenigen, die ihm halfen, ihn schützten, finanzierten, versteckten oder dafür bezahlt wurden, ihn zu verstecken. Manche von ihnen teilten die Nazi-Ideologie, andere profitierten einfach finanziell oder genossen den Komfort, den es ihnen brachte. Zusammen
machten sie Mengele möglich. Nach dem Krieg halfen sie ihm, der Justiz und der Rache zu entgehen. Der Film handelt mehr davon als nur von einem einzelnen Mann. Das Böse, das ist nicht nur Mengele, sondern auch all diese Menschen… Viele von ihnen sind ungestraft davongekommen.


Über welche Quellen verfügten Sie, um die Welt nachzubilden, in der Mengele in Südamerika lebte?

Es gab nur sehr wenige visuelle Dokumente. Es existieren einige Fotos von Mengele aus der Zeit in Auschwitz und ein paar Porträts aus Südamerika. Den Rest mussten wir erfinden. Wir haben alle verfügbaren Informationen zusammengetragen, um die Atmosphäre möglichst glaubwürdig wiederzugeben. Diese Aufgabe erwies sich als besonders komplex, aber zugleich auch faszinierend. Der Roman von Olivier Guez war unser Hauptleitfaden.


Eine der überraschendsten Szenen des Films zeigt eine Reise Mengeles nach Günzburg in die frühe Bundesrepublik Deutschland, wo seine Familie weiterhin großen Einfluss hatte…

Man hat lange gedacht, dass mit dem Ende des Krieges die „Blase des Bösen“ geplatzt sei… Doch das Leben war viel komplexer und paradoxer. Die Aufgabe der Kunst ist es, genau diese Komplexität sichtbar zu machen, wo Politik und Propaganda einfache Antworten liefern. Die Waffen schwiegen, aber der Krieg blieb in den Menschen, ebenso der Wunsch zu töten. Manchmal bricht es wieder hervor, wie heute. Wir alle träumen von Gerechtigkeit, davon, dass das Böse bestraft wird, doch das ist leider naiv. Mengele floh vor Strafe und Rache… Im Film scheint er von seinen Verbrechen, die er begangen hat, verfolgt zu werden, aber das habe ich hinzugefügt, ähnlich wie in „Boris Godunow“ oder „Macbeth“, deren Figuren von ihren
Geistern heimgesucht werden.


Warum haben Sie Auschwitz in Rückblenden gezeigt?

Ich konnte nicht darauf verzichten zu zeigen, was Mengele in Auschwitz tat. Das war absolut notwendig. Zur Vorbereitung des Films sind wir mit dem Team nach Auschwitz und ins Krakauer Ghetto gefahren. Das hat uns sehr geprägt.


Und warum haben Sie diese Szenen in Farbe gedreht, während der Rest des Films schwarz-weiß gehalten ist?

Der Großteil des Films folgt den Codes des „Film noir“, also schwarz-weiß. Aber für Mengele entspricht die Zeit in Auschwitz seinen besten Jahren: Er ist jung, hat eine Frau, ein Kind, eine Karriere… Das zeigt die völlige Verdrehung, in der die Figur lebt. Für ihn ist diese Zeit glücklich, während sie in Wahrheit das absolute Grauen darstellt.



Sie haben die komplexe Rolle des Josef Mengele dem Schauspieler August Diehl anvertraut…

Wir sind wahre Brüder in der Kunst, fast wie eine einzige Person. Zwischen uns gibt es eine Art telepathische Verbindung. Es genügte, dass ich nur an etwas dachte, und er verstand sofort, was ich meinte. Es ist ein Glück, mit einem Künstler dieser Größe zu arbeiten. Wir arbeiten auch am Theater zusammen, und ich hoffe, dass wir uns so bald nicht trennen.


Warum ist dieser Film heute wichtig?

Ich will ehrlich sein: Ich habe hochgebildete Menschen getroffen, Intellektuelle, die mich fragten: „Sind Sie sich wirklich sicher, dass das, was Sie über den Holocaust, über Auschwitz, über die Vernichtung der Juden erzählen, wahr ist?“ Das hat mich zutiefst erschüttert. Wir sind im Jahr 2025, und es gibt immer noch Menschen, die daran zweifeln, ob die Shoah wirklich stattgefunden hat. Zudem haben wir während eines anderen Krieges gedreht, in dem Russland ständig das Wort „Nazismus“ wiederholt… Und ich dachte: Auch nach diesem Krieg, den wir gerade erleben, wird es sicherlich wieder Kriegsverbrecher geben, die versuchen, sich irgendwo zu verstecken. Was werden sie tun, wenn alles vorbei ist? Wo werden sie sich verstecken? Werden sie sich überhaupt verstecken? Und wann? Wie werden sie versuchen, der Rache zu entkommen? Ich habe keine Antworten auf diese Fragen, aber genau da schließt sich der Kreis zu dem, was ich am Anfang sagte: Es geht um die Frage einer göttlichen Gerechtigkeit – für mich ein zentrales Thema. Die Frage der Rache ist für mich ebenfalls ein wichtiges Thema. Seit der Krieg in der Ukraine begann, ist das Thema Rache plötzlich und so brutal wieder da.