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Kategorie: Film & Fernsehen
Bildschirmfoto 2025 11 01 um 00.35.51Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 30. Oktober 2025, Teil 15

Heinrich Sabel

Berlin (Weltexpresso) - Gedanken zur Themenwahl und Filmgeschichte: Die Entstehungsgeschichte von MEMORY HOTEL reicht in das Jahr 1995 zurück. Die Neunziger Jahre waren geprägt von einem unerschütterlichen Hedonismus, der mit dem so genannten „Ende der Geschichte“, dem Fall des eisernen Vorhangs eingeläutet wurde. Ich konnte dem schönen und verlockenden Schein der ewigen Party nicht trauen. Gleichzeitig bemerkte ich – insbesondere in meiner Elterngeneration, der um den Mauerfall ungefähr Fünfzigjährigen – eine große Resignation, der Party folgte die schnelle Ernüchterung. Die neue Welt mit ihren Versprechen sollte für sie weitestgehend unerreicht bleiben.

Es war schnell klar, wollte ich einen weiteren Film herstellen, dann müsste ich für diese Generation ein starkes Bild erfinden, das sich später im Schlussbild von MEMORY HOTEL manifestiert hat.

Unser soziales Gedächtnis reicht etwa 40 Jahre. Aus damaliger Sicht war die Zeit abgelaufen und die Grausamkeiten des Naziregimes wären bald vergessen. Mit dem kommenden Eintritt in das neue Jahrtausend würde auch meine Geschichte, die der Teilung von Ost und West, endgültig zu den Geschichtsbüchern gelegt werden. Ich formulierte vier Eckpunkte einer möglichen Filmerzählung; der Kalte Krieg, der Bruch in den Biografien – ausgelöst durch die Ereignisse von 1989, die Sorge um das Vergessen und eine wie auch immer formulierte Zukunftsaussicht.

In meinen animierten Kurzfilmen bis 1999 wurde das Thema Macht in das Zentrum gestellt. Meine formulierten Eckpunkte sind allesamt durch Gebrauch und Missbrauch von Macht beeinflusst. Ein langer Film, der mir folgerichtig schien, würde sich lückenlos anschmiegen. Die reglementierte Filmzeit eines Kurzfilmes schien nicht angemessen, um dem Thema gerecht zu werden. Aber welche Geschichte sollte ich erzählen?

Ich durfte ganz unerwartet den Abzug der russischen Armee aus Ostdeutschland miterleben und erfuhr von der Parallelgesellschaft, in der man sich befand, wenn man in einer durch Russen dominierten Garnisonsstadt lebte. Mir schien diese Situation als modellhaft und exemplarisch für die Zeit des Kalten Krieges.

Diese Situation wurde mein Plateau. Der so genannte Stop-Motion Film sollte mir helfen, die Figurenkonstellation buchstäblich als Modell zu begreifen und darzustellen. Denn nichts anderes sind die Figuren: Modelle, zudem noch abstrakt, mit denen wir uns die Filmwelt erspielen. Im Mittelpunkt des Spiels sollte eine starke Frau stehen; Sophie. Eine die sich in einer militarisierten Männerwelt behaupten wird. In einem Hotel, in dem sich Ideologien einnisten und gehen wie die Gäste eines wirklichen Hotels.


Gedanken zum Genre und der Genese der Filmes

Der Herstellungsprozess von MEMORY HOTEL währte ein Vierteljahrhundert. Anfangs sollte das Finale des Filmes zur Jahrtausendwende enden und der Film auch um diese Zeit seine Fertigstellung erleben.

Ich habe immer Wert darauf gelegt, eine Geschichte zu erfinden, die sich nur mit Mitteln der Animation erzählen lässt. Dafür sollten sich die Figuren einer eigenen Sprache und Diktion bedienen, dafür mussten das Set und das Spiel mit dem Genre meinen Vorstellungen von Animation gerecht werden. Bis dato durfte ich zwei Studiengänge absolvieren; Puppenspiel an der renommierten Ernst Busch Schauspielschule und Animation bei dem preisgekrönten Animationsfilmer Paul Driessen. Zudem verfügte ich über Praxiserfahrung aus beiden Welten. Es lag nah, diese Erfahrungen in das Setting von MEMORY HOTEL zu integrieren. Womit ich nicht gerechnet hatte: die Unternehmung fand wenig Zuspruch. Es gab Mitte / Ende der Neunziger Jahre keine Fallbeispiele für Stop-Motion Filme im langen Feature-Format für ein erwachsenes Publikum. Ich fand und finde es noch heute befremdlich, dass es immer Fürsprecher geben muss, um bei Dritten; Geldgebern, Partner etc. Zustimmung zu erreichen. Warum nicht etwas wagen, auch um die Gefahr des Scheiterns.

Und so war der Herstellungsprozess des Filmes eng mit der Abwägung, Scheitern und das Vorhaben abbrechen oder weitermachen, verbunden. Mir gelang es finanzielle Mittel zu generieren, diese waren keineswegs ausreichend. Geholfen hat letztlich, dass ich in der so genannten „Mangelwirtschaft“ sozialisiert wurde. Alles was mit Geld nicht zu stemmen war, ist durch Einfallsreichtum, Phantasie und Improvisation ersetzt worden. Geld ist ein wunderbarer Beschleuniger, Arbeit lässt sich teilen. Dieses Privileg wurde MEMORY HOTEL nicht zuteil. Der Film entstand in kleiner Gruppe, die durch ein solidarisches Prinzip am Leben gehalten wurde. Ich hatte das Glück, dass diese Utopie über 25 Jahre gehalten hat und empfinde es als Privileg.

Animation braucht Zeit. Der Prozess des „In Bewegung setzens“ geschieht in der Demontage einer Bewegung, Stück für Stück – die Kamera stoppt – eine Figur, ein Gegenstand oder die Kamera selbst wird ein winziges Stück bewegt, dann folgt ein Einzelbild in der Kamera. Animation braucht Geduld, Einfühlungsvermögen und Demut. Egal was außerhalb der Black Box „Animationsstudio“ geschieht, alle Beteiligten mussten sich, einem/einer Schauspieler*in gleich in die Welt der Figuren versetzen. Ich wechselte mein Schuhwerk und wurde Sophie, Beckmann, der General, Scharf und Wassili. Selbst wenn ich ihr Verhalten nicht billige, so war es doch meine Aufgabe, die Motivationen der Figuren zu verstehen und adäquat umzusetzen. Diese Figuren verfügen nicht über das darstellerische Inventar lebendiger Menschen. Ich bemühte mich, jeder Figur einen eigenen Gestus zu vermitteln, der ihren Charaktereigenschaften gerecht wird. Ich hatte starkes Material, die von Franck Michel kreierten Figuren. Ich habe mich jeden Tag vor ihnen verneigt und bin dankbar. Mit weniger ausdrucksstarken Figuren wären die 25 Jahre nicht möglich gewesen. 

Der Regisseur Heinrich Sabl
Heinrich Sabl, geboren 1961, wuchs in einer Industriesiedlung unweit von Görlitz auf. Nach einer Ausbildung zum Schlosser war er am Puppentheater Bautzen tätig. Von 1983 bis 1987 folgte ein Studium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ im Fachbereich Puppenspiel. Nach dem Studium arbeitete er als Puppenspieler am Puppentheater Neubrandenburg. 1989 begannt sein freiberufliches Engagement am DEFAStudio für Trickfilme Dresden mit dem Versuch, Heiner Müller’s „Nachtstück“ zu verfilmen. Nach dem Mauerfall begann er mit der Arbeit an animierten Kurzfilmen und parallel sein Studium an der Gesamthochschule Kassel: Visuelle Kommunikation mit Schwerpunkt Animation bei Prof. Paul Driessen. Ab 1995 nahm die Stoffentwicklung, das Schreiben des Drehbuchs und die Finanzierung des animierten Langfilmes MEMORY HOTEL, damals noch unter dem Arbeitstitel HOTEL 2000, seinen Lauf. Die aktive Arbeit an der Herstellung des Films dauerte von 1999 bis 2024. Parallel war Sabl mit Lehrtätigkeiten an der Filmakademie Ludwigsburg, an der Hochschule Luzern – Design Film Kunst, an der HFBK Dresden und an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ im Fachbereich Puppenspiel beschäftigt.

Filmographie (Auswahl):
1999 – 2024 MEMORY HOTEL
1991 – 1999 WOLF bleibt WOLF nach Gebrüder Grimm Franz Müllers „Drahtfrühling“ nach Kurt Schwitters
„Der Hahn“ nach Milan Pawlik
„100 Jahre Kino“
„Père Ubu“ nach Alfred Jarry
„Mère Ubu“ nach Alfred Jarry
1989 – 1990 „Nachtstück“ nach Heiner Müller
1985 – 1989 Diverse Filmarbeiten mit den so genannten „Anderen Bands“ des ostdeutschen Undergrounds / fiktionale Kurzfilme mit Darstellern, zumeist Studierende der „Ernst Busch“, Fotografische Arbeiten / Performances 1985
„Clown sein“ (Live Action Puppenfilm) 

Foto:
©Verleih

Info:
Memory Hotel
Ein Film von Heinrich Sabl mit den Stimmen von Dagmar Manzel, Milan Peschel, Milton Welsh u.v.m. Figurenanimationsfilm, Deutschland 2024, 101 Minuten

Entwurf und Bau der Figuren und Sets
Charakterdesign Figuren     Frank Michel
Formbau / FoamArtist Figuren.      Gesine Richter, Peter Schnaak
Figurenbau und Kostüm         Kerstin Borchardt, Franck Michel,  Gesine Richter, Peter Wächtler    
Mechaniken der Figuren.        Marcel Caspers, Thomas Vogel
Kulissen und Setbau.              Matthias Mücke, Harald Csipai, Stefan Waltz, Marius Dreger, Daniela Petrozzi, Kathrin                                                      May, Tristan Blust, Heinrich Sabl, Anja Schulinus, Gesine Richter
Requisiten und Accessoires.            Friederike Sommerfeldt, Harald Csipai, Gunnar Wassermann, Anke Gruß, Ingo                                                                    Mewes, Carsten Welzel
Hintergründe und Illustration.     Simone Haack, Katrin Michel
 
Der Text stammt aus dem Dezember 2024
Abdruck aus dem Presseheft