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Kategorie: Film & Fernsehen
Bildschirmfoto 2025 11 01 um 00.34.19Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 30. Oktober 2025, Teil 17

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Sicher in diesem Jahr der ungewöhnlichste Film, der einem für immer im Gedächtnis bleibt, ist dieser Puppenfilm für Erwachsene, an dem Heinrich Sabl, in Personalunion für alle Gewerke zuständig, rund 25 Jahre gearbeitet hat und dessen Puppen etwas Holzschnittartiges haben, nichts Liebliches aus heutigen Tagen, sondern harte Züge des Kasperletheaters von gestern, dabei eine ausgesprochene Individualität, die gleichzeitig archetypisch eine ganz spezifische Menschengruppe meint.

Die Rede ist von den untergehenden Nazis und den obsiegenden Rote Armee Soldaten 1945, die hier in diesem Hotel aneinandergeraten, aufeinander folgen. Zum Entsetzen und Schaden der fünfjährigen Sophie. Die sitzt zusammen mit ihren Eltern im Hotel fest, obwohl die Rettung doch nahe ist. Die Familie hat nämlich unter Mitnahme nur spärlichen Gepäcks, halt ein paar Kleidungsstücke im Koffer, ein Trumpf in der Hand gegenüber der anrückenden Roten Armee, vor der sie Angst hat: die Schiffskarten für die Überfahrt nach Amerika. Doch soweit kommt es nicht. Aus der einen Übernachtung wird das Ende der Reise. Im Hotel sind der Nazi Scharf mit seinem Hitlerjungen immer noch zugange, für sie währt das Dritte Reich weiter, egal, wer unter ihnen Besatzung ist, sein wird, denn noch sind die Russen nicht da. Darum sind für den Tod der Eltern diese Verbrecher zuständig, deren Visagen sich Sophie ins Gedächtnis brennen, auch wenn sie nach dem Gemetzel sich gar nicht mehr an Konkretes erinnern kann.

Da hat ein fürsorglich höheres Wesen dafür gesorgt, dass Sophie ihr Gedächtnis verliert und sich an die Schandtaten nicht erinnern kann. Was zählt, ist die Gegenwart und die hat die Sowjets als Hotelbesitzer, für die, deren Belegschaft und deren Gäste Sophie fürderhin kochen soll. Das geht Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt. Diese Szenen haben etwas Alptraumhaftes, weil sie für das stehen, was für uns entseeltes Massenleben darstellt, weshalb die Funktion des Kochens und der Köchin, die ja dem lebenserhaltenden Essen vorausgeht, eine psychologisch interessante Konstellation darstellt. Es wird nämlich die Essenszubereitung nach taylorischen Gesetzen in Fließbandproduktion hergestellt, was dann in den typischen Tabletts mit Deckel überm Teller serviert wird. Gut scheint das nicht zu schmecken, denn es häufen sich die nicht leergegessenen Tabletts im Keller. Heinrich Sabl hat für so vieles derart eindrückliche Bilder geschaffen, die man einfach im Gedächtnis behalten muß. Dieses Fließbandessen, das nicht mundet, gehört dazu.

Sophie hat in dem Sowjetsoldaten Wassili von Anfang an einen, der ein schützendes Auge über sie wirft. Sie hat das auch nötig, denn die beiden Nazis, der Reichswehroffizier Scharf und der Hitlerjunge Beckmann haben ja im Hotel auch überlebt, denn das Hotel hat labyrinthische Räume und jedes Stockwerk birgt ein anderes Geheimnis, am wichtigsten wird der Keller, ein Luftschutzkeller, auf den Sophie spät stößt. Der Zeitablauf wird dem Zuschauer nämlich nebenbei untergeschoben. Da sieht man eine Zeitung, auf der von der Mondlandung berichtet wird. Das war 1969, aber dann hört man auch des Volkes Stimme im Chor: „Wir sind das Volk“. Überhaupt sind die Jahre 1945 mit dem Sieg der Sowjets und 1989 mit dem vermeintlichen Sieg des Volks die strukturierenden und auch in Eins gesetzten zeitlichen Markierungen.

Das ist Absicht, wie Heinrich Sabl betont, genauso wie die Puppen an das alte Kasperletheater erinnern, wo nichts geschönt wurde, sondern in den Zügen schon die Charakteristik der Person zu erkennen ist. Wie es hier mit den Nazis ist? Auf jeden Fall passiert etwas. Sophie entdeckt, wo sich der Nazijunge Beckmann, der ja längst ein alter Nazi geworden ist, versteckt hat, die Stockwerke und die Keller sind eben gewaltig. Die tausendfachen Striche an der Wand, erklärt ihr Beckmann, stehen für die Tage der sowjetischen Besetzung. Was Sophie nun darüberhinaus entdeckt und was ihrem Gedächtnis dann doch auf die Sprünge hilft und warum der Luftschutzkeller des Hotels so wichtig wird, verändert sie Sachlage und es wird etwas passieren!

Für den Zuschauer, der sich in der Puppenkunst auskennt, ist dieses analoge Meisterstück ein Höhepunkt filmischer Puppenkunst. Aber auch für den Zuschauer, der das und die vielen filmischen Beispiele so ganz unterschiedlicher Puppenkunst überhaupt nicht kennt, bleiben diese geschnitzten Gesichter und ihr merkwürdiges Verhalten fest im Gedächtnis verankert. Man hat den Eindruck von etwas Wichtigem, ohne genau sagen zu können, worin das besteht. Das gilt für die abfotografierten Puppen genauso wie für den rätselhaften Inhalt, der deutsche Geschichte widerspiegelt.

Foto:
©Verleih

Info:
Memory Hotel
Ein Film von Heinrich Sabl mit den Stimmen von Dagmar Manzel, Milan Peschel, Milton Welsh u.v.m. Figurenanimationsfilm, Deutschland 2024, 101 Minuten

Entwurf und Bau der Figuren und Sets
Charakterdesign Figuren     Frank Michel
Formbau / FoamArtist Figuren.      Gesine Richter, Peter Schnaak
Figurenbau und Kostüm         Kerstin Borchardt, Franck Michel,  Gesine Richter, Peter Wächtler    
Mechaniken der Figuren.        Marcel Caspers, Thomas Vogel
Kulissen und Setbau.              Matthias Mücke, Harald Csipai, Stefan Waltz, Marius Dreger, Daniela Petrozzi, Kathrin May, Tristan Blust, Heinrich Sabl, Anja Schulinus, Gesine Richter
Requisiten und Accessoires.            Friederike Sommerfeldt, Harald Csipai, Gunnar Wassermann, Anke Gruß, Ingo  Mewes, Carsten Welzel
Hintergründe und Illustration.     Simone Haack, Katrin Michel