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Kategorie: Film & Fernsehen

41 WMFF poster41. Film Festival Warschau 2025

Holger Twele

Warschau (Weltexpresso) - Mit einem jungen neuen Team unter der Leitung von Joanna Szymańska-Szcześniak und dem Programmdirektor Bartłomiej Pulcyn startete das Warschauer Filmfestival in seiner 41. Ausgabe in acht Spielstätten. Die Neuausrichtung der renommierten Veranstaltung kam schon im visuellen Erscheinungsbild zum Ausdruck. Neben den traditionellen internationalen Wettbewerben für Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme, für Erstlingswerke und Sondervorführungen wurden neue Sektionen etabliert. Etwa „Konfrontationen“, eine 24 Filme umfassende Reihe mit kontrovers diskutierten Filmen, oder „Cinema, My Love“ mit Filmen, die jeweils von Stars und Filmexperten zusammengestellt werden. Nicht zu vergessen die neue Sektion „Animus, Cinema of Values“, mit der das Publikum angeregt werden soll, sich in einer zunehmend polarisierten Welt mit Werten auseinanderzusetzen, die bis heute wirklich zählen.

 

Familienwerte“

Um alte und neue Werte und um daraus entstehende Krisen ging es insbesondere in den 15 Spielfilmen des Hauptwettbewerbs. Der Eröffnungsfilm des Festivals „Anniversary“ des in Polen geborenen und in den USA arbeitenden Regisseurs Jan Komasa, der zugleich im internationalen Hauptwettbewerb lief, markierte die Richtung, in die es in der überwiegenden Mehrzahl der Filme ging: die Bedrohung von Familie bis hin zu ihrem Zerfall, aus unterschiedlichsten Perspektiven, meist aus der Sicht der Erwachsenen, mitunter auch aus der von betroffenen Kindern. In Komasas explizit politischem Film geraten die Grundfesten einer gutsituierten bürgerlichen US-Familie über einen jeweils an den Geburtstagsfeiern verankerten Zeitraum von fünf Jahren ins Wanken, als ein neues Familienmitglied durch Heirat in die eingeschworene Gemeinschaft hinzustößt. Es handelt sich um die ehemalige Studentin der mit Diane Lane hochkarätig besetzten Mutter von bereits erwachsenen Kindern. Die junge Frau provoziert durch ein von ihr verfasstes Buch mit dem vielsagenden Titel „Change“. Der darin angesprochene Wandel lässt sich analog zur Gespaltenheit der amerikanischen Gesellschaft natürlich sehr unterschiedlich interpretieren. Während das Buch bei den älteren Familienmitgliedern eher auf Unverständnis stößt, macht es den Sohn zum egozentrischen Wendehals und animiert die jüngeren Töchter zu offenem Widerstand bis hin zum Einsatz von Gewalt. Schade nur, dass der zwar handwerklich versierte und überzeugende Film doch arg dialoglastig ist.

 

Visuell und moralisch zugleich bemerkenswert war „Our Girls“ (NL/B/AU) von Mike van Diem, die tragikomische Geschichte zweier vom sozialen Status her sehr unterschiedlicher Familien, die in einer gemeinsam erworbenen Villa seit zehn Jahren Urlaub in den Südtiroler Alpen machen. Vor dieser grandiosen Bergkulisse entwickelt sich ein Drama, nachdem die in ihrem Charakter sehr ungleichen Teenager-Töchter der Familien verunglücken, wobei beide danach ums Überleben kämpfen. Nur eine von ihnen hat wohl eine echte Überlebenschance, aber möglicherweise auch nur dann, wenn ihr das Herz der anderen transplantiert wird. In ihrer existenziellen Notlage über das Schicksal ihrer Kinder gehen die Eltern der beiden Mädchen bis zum Äußersten, was die gut gehütete Fassade der Familien zum Einsturz bringt.

Nicht minder dramatisch sind weitere Filme aus dem Wettbewerb. „Father“ (SR/CR/PL) von Tereza Nvotná stellt einen viel beschäftigten Geschäftsmann in den Mittelpunkt, der sich trotz seiner beruflichen Verpflichtungen liebevoll um seine Familie und insbesondere um die zweieinhalbjährige Tochter kümmert. Er bringt sie wie jeden Morgen in den Kindergarten. Nur diesmal, mitten in einer großen Hitzeperiode, vergisst er sein Kind im überhitzten Auto. Es ist sechs Stunden später tot. Überwältigt von Schuldgefühlen für das ihm selbst nicht erklärbare Fehlverhalten, das auch ein gerichtliches Nachspiel hat, gerät sein bisheriges Leben völlig aus der Bahn.

Besonders harte Kost ist „Home sweet Home“ (PL) von Wojciech Smarzowski über Gewalt in der Ehe. Eine junge Frau aus einfachen Verhältnissen lernt über das Internet einen um einige Jahre älteren einflussreichen Politiker kennen und verliebt sich in ihn. Die Idylle samt schöner in schnellen Schlaglichtern gezeigten Urlaubsreisen scheint perfekt, bis die beiden heiraten und Nachwuchs sich ankündigt. Plötzlich zeigt der Ehemann sein wahres Gesicht, der sich nach eigenem Bekunden schon immer von den Frauen betrogen fühlte. Er sperrt seine frisch angetraute Ehefrau nun ein, demütigt, schlägt und foltert sie ohne Rücksicht auf Frau und Kind. Mehr noch, die schweren Anschuldigungen gegen ihn werden von Teilen der Polizei, der Kirche und der Gesellschaft verharmlost und lassen sich vor Gericht zunächst nur schwer beweisen. Nicht nur in Polen scheint die Thematik von Gewalt in der Ehe gegenwärtig besonders virulent und es ist wichtig, dass diese auch in Filmen aufgegriffen wird. Es lässt sich allenfalls einwenden, dass der Film die entwürdigenden Gewaltszenen sowohl realistisch als auch als traumatische Angstvisionen ungewöhnlich drastisch und ausführlich darstellt und auf diese Weise einen Teil des Publikums verschrecken könnte.

 

Im Spiegel von Kindern

Kinder sind immer wieder die Leidtragenden von gestörten Familienbeziehungen und Fehlverhalten der Erwachsenen. Der südkoreanische Film „The World of Love“ von Yoon Ga-eun geht mit überraschenden Wendungen und differenzierter Betrachtungsweise der Frage nach, ob bei einem sexuellen Missbrauch von Kindern die Opfer für ihr Leben gekennzeichnet seien. Kaum jemand möchte das abstreiten. Eine 17-jährige Schülerin allerdings, die behauptet, als Kind von ihrem Onkel missbraucht worden zu sein, möchte nicht in diese Schublade gesteckt werden. Sie kämpft mit ihrem Umfeld nicht unmittelbar nachvollziehbaren Verhaltensweisen in ihrer Klasse darum, gleichwohl ein Recht auf ein erfülltes Leben zu haben, was den Missbrauch an sich in keiner Weise verharmlost.

In dem hoch artifiziell gestalteten Film „Babystar“ von Joscha Bongard, dem einzigen deutschen Beitrag, rebelliert ein wohlbehütetes und finanziell gut abgesichertes 16-jähriges Mädchen gegen ihre Eltern, nachdem sie mit der unerwarteten Geburt einer Schwester erkennt, dass sie von ihren Eltern in den sozialen Medien mit den intimen Empfindungen und Erlebnissen einer Heranwachsenden übel vermarktet worden ist. Nun möchte sie und dieses Schicksal wenigstens ihrer kleinen Schwester ersparen.

Erst nach dem Tod der demenzkranken Mutter erfahren die drei bereits erwachsenen Töchter in „Y“ (RO/GR) von Maria Popistasu und Alexandru Bacia, dass die Mutter seinerzeit in einem der von Diktator Ceaucescu gegründeten rumänischen Waisenhäuser tätig war. Dort wurden die Kinder unter unwürdigen Umständen weitgehend sich selbst überlassen und waren dem Tod geweiht. Nur eine der drei Schwestern ist bereit, sich dieser unaufgearbeiteten Vergangenheit der Familie und gleichermaßen des Landes zu stellen. Die verlogene Kluft zwischen der bürgerlichen Familie und den ausgiebig eingeblendeten Szenen aus seinerzeit auch in Deutschland ausgestrahlten Dokumentaraufnahmen kommt zwar deutlich zum Ausdruck, aber in dieser kruden Vermischung wird der Film weder den damals verlassenen Kindern noch den Konflikten der fiktiven Familie gerecht.

  

NinoHoffnungsschimmer

Es gab aber auch kleine Zeichen der Hoffnung in den Filmen. Eine besondere Erwähnung wert sind hier zwei Filme. Der französischen Film „Nino“ von Pauline Loquès, der neben einer Lobenden Erwähnung der Ökumenischen Jury, auch den Preis der jungen Fipresci-Jury sowie den von der Stadt Warschau vergebenen Hauptpreis des Festivals erhielt, wurde damit zum großen Favoriten des Festivals. In dem bereits in Cannes gelaufenen Film erfährt der gerade 29 Jahre alt gewordene Nino zufällig bei einer Nachuntersuchung, dass er an Krebs erkrankt ist und dringend behandelt werden muss. Ihm bleiben drei Tage über das Wochenende, um sich darauf vorzubereiten und jemanden zu finden, der ihn bei der ersten Chemotherapie begleitet. Dieser Debütspielfilm besticht gleichermaßen durch den kanadischen Hauptdarsteller Théodore Pellerin wie durch die Form der beobachtenden Inszenierung. Auf seiner zwischen stummer Verzweiflung und stoischer Gelassenheit schwankenden dreitägigen Reise durch die anonym wirkenden Stadtlandschaften von Paris begegnet Nino vielen Menschen. Auch sie haben ein eigenes Schicksal zu tragen und haben Schwierigkeiten, sich offen mitzuteilen. Von Mitgefühl und großer Menschlichkeit getragen zeigt der Film, dass es in einer zunehmend anonymen Welt noch echte Freunde, Zärtlichkeit und gegenseitiges Verständnis gibt.

  

Brother2In dem anrührenden Film „Brother“ (PL/CR) von Maciej Sobieszczański wächst der 14-jährige Dawid zusammen mit seinem neunjährigen Bruder in einem heruntergekommenen Mietshaus bei der Mutter auf. Seine große Leidenschaft ist der Judo-Sport, wobei sein Talent ihm eine bessere Zukunft ermöglichen könnte, wären da nicht das zur Gewalt neigende soziale Umfeld, die Liebe zu seinem kleinen Bruder, um den er sich kümmern muss, wenn die Mutter arbeiten geht, und vor allem sein Vater. Dieser sitzt wegen Einbruch und Diebstahl im Gefängnis, doch davon möchte der kleine Bruder nichts wissen. Er idealisiert den Vater und kann den neuen Freund der Mutter nicht leiden. Hin- und hergerissen zwischen den rigiden Anweisungen des Vaters und der Loyalität zu Mutter und Bruder versucht Daniel, seinen eigenen Weg im Leben zu finden. Hautnah in vielen Großaufnahmen und mit bewegter Handkamera lässt der Film an Dawids Kampf für einen Platz im Leben teilnehmen, wobei der sympathische Hauptdarsteller in seiner Rolle voll überzeugt. Ein bewegender Film über Familienzusammenhalt, Bruderliebe und den Wert des Vergebens.

Fotos:
©Plakat
©„Nino“ © Blue Monday Productions
©„Brother“ © Apple Film Productions

Info:
Hinweis: Dieser Artikel erscheint in leicht veränderter Form auch auf der Website von Interfilm.