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Kategorie: Film & Fernsehen

yes3Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 13. November 2025, Teil 4


Olivier Père


Paris (Weltexpresso) – In der Eröffnungsszene, einer dekadenten Party für die Superreichen, zitieren Sie explizit das Gemälde „Die Säulen der Gesellschaft“ von George Grosz. Im gesamten Film setzen Sie die Kamera wie einen Pinsel ein und lassen sich in mehreren Szenen zur visuellen Abstraktion hinreißen. Haben Sie sich vom Futurismus, Dadaismus, Expressionismus oder anderen künstlerischen Bewegungen inspirieren lassen?



Ja, sehr sogar. Ich bin fasziniert vom impressionistischen Ansatz, nicht das Auto zu zeichnen, sondern die Emotion, die das Auto hinterlässt, wenn es vorbeifährt. Oder von den Werken Jackson Pollocks, der mit Pinseln auf die Leinwand losgeht, um Zufall und Schöpfung zu verbinden und den künstlerischen Gestus vom Denken zu befreien. Ich finde diese Herausforderung tausendmal interessanter und größer mit einer Kamera, die im Grunde ein extrem steriles Werkzeug ist und der Realität extrem treu bleibt. Man muss das Chaos der Welt in den Film hineinlassen. Die Gefahr von Filmen, die zu glatt und zu präzise sind, besteht darin, dass sie am Ende nur über sich selbst sprechen und es versäumen, über die Welt um sie herum etwas auszusagen. Ich mag das Sprichwort, das besagt, dass man beim Tanzen spürt, wie die Welt mit einem tanzt. Ich habe in meinem Film versucht, das wörtlich zu nehmen, und das ist viel leichter gesagt als gefilmt.



Wie haben Sie die Songs und die Musik im Film ausgewählt, zum Beispiel Elvis Presleys „Love Me Tender“?

Ich glaube, dass jede Szene eines Films den Film als Ganzes und alle zentralen Spannungen, die den Film ausmachen, verkörpern muss. Das gilt insbesondere für die Eröffnungsszene. Die Party, mit der der Film beginnt, endet mit einem Gesangswettbewerb der dort anwesenden „Säulen der Gesellschaft“ unter der Leitung des Generalstabschefs, der „Love Me Tender“ intoniert, ein Liebeslied, das geschrien wird, als wäre es ein Kriegslied. Das Paar leistet zunächst Widerstand, gibt aber bald nach. Indem sie sich ergeben, geben sie „Love Me Tender“ seine Dimension als Lied der absoluten Liebe zurück. Mir gefiel die Idee, ein Lied wie „Love Me Tender“ zu nehmen, es zu subvertieren und dann wieder „zurückzuverwandeln“. Alle Themen des Films – kollektiver Wahnsinn, der die Liebe zerstört, Spannung zwischen Privatem und Kollektivem – sind in dieser Szene enthalten, und das wird durch die Musik vermittelt. Mir gefiel auch die Idee, den Generalstabschef Elvis singen zu lassen. Wenn es eine Armee von Sänger*innen gäbe, könnte Elvis mit seiner bizarren Männlichkeit, die ich mit der israelischen militaristischen Männlichkeit assoziiere, der Generalstabschef sein.



Was können Sie uns über das Propaganda-Musikvideo erzählen, das am Ende des Films gezeigt wird?

Ich habe mir das nicht ausgedacht. Einige Wochen nach den Anschlägen vom 7. Oktober und dem Beginn des Krieges im Gazastreifen trafen sich strategische Berater, um alle möglichen Initiativen zur Stärkung der Moral im Land zu entwickeln. Sie filmten auch einen Kinderchor, der dieses Lied singt. In gewisser Weise ist der Film auch die Geschichte der Entstehung eines Liedes. Die schrecklichen Texte, die Y. vertont, sind echt. Sie sind nicht das Ergebnis meiner Fantasie. 


Y. hat ein konfliktreiches Verhältnis zu seiner verstorbenen Mutter, mit der er spricht, während er zum Himmel aufblickt, und die gelegentlich ihre Ablehnung zum Ausdruck bringt.
 
Die einzigen zärtlichen Momente in AHEDS KNIE gab es, wenn der Protagonist mit seiner kranken Mutter spricht. In Yes repräsentiert Y.s Mutter das Gewissen und die Moral, die zum Schweigen gebracht werden sollen, die es aber dennoch schaffen, die Reise der Nationalist*innen in Richtung Hedonismus und Dummheit zu gefährden oder Steine auf Y. herabregnen zu lassen, nachdem er seine Melodie auf die bombardierte Stadt Gaza ausgespuckt hat. Diese Eingriffe verleihen dem Film eine mystische Dimension.



Wie würden Sie die Figur der Yasmine, Y.s Partnerin, beschreiben?

Sie tanzen zusammen, haben Spaß zusammen und machen zusammen ihre Geschäfte. Aber ich denke, dass Prostitution für Yasmine ein Mittel zum Zweck ist, während sie für Y. zu einem existenziellen Zustand wird. Y. wird süchtig nach Unterwerfung. Das Einzige, was er sagen kann, ist „Ja“. Im Gegensatz zu ihm ist Yasmine eine Kämpferin. 


Der Film enthält einige überraschende Videoeffekte.

Wir leben in einer sehr technologischen Welt. Der Film ist eine Mischung aus futuristischen Technologien, wie zum Beispiel dem Propagandachef, dessen Kopf sich in einen Bildschirm verwandelt, und sehr primitiven Dingen, wie zum Beispiel, wenn er mit dem Kopf gegen ein Telefon stößt, um Nachrichten zu tippen. Das drückt die kurze Distanz zwischen totaler Entmenschlichung und einer Art Einfachheit aus, die immer noch vorhanden ist. Es verstärkt auch den Aspekt des Films als Fabel oder Legende. Man begegnet mythologischen Figuren, wie dem Russen, der der reichste Mann der Welt ist, jemand, der die Regeln der Natur überwindet. Er ist in der Lage, innerhalb von Sekunden einen Wolkenkratzer in der Wüste aus dem Boden zu stampfen, aber er tut dies mit Hilfe einer kaputten Fernbedienung. Diese Spannung ist auch in diesem Film vorhanden. Ich bedaure, dass die meisten Filme heute braver sind als das echte Leben. Wenn man Google oder eine Nachrichtenwebsite aufruft oder sich sogar nur auf der Straße umschaut, wird man Zeuge von Ereignissen, die viel verrückter und beunruhigender sind als alles, was man in einem Spielfilm sieht.



Der zweite Teil des Films, der in der Wildnis spielt, präsentiert eine introspektive Reise nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit und wirft Fragen der Erinnerung und Vorstellungskraft auf.

Der erste Teil ist voller Überschwang. Alles ist übertrieben. Es ist zu bunt, zu laut, zu tanzlastig, zu trashig. Es spricht auch für eine Blindheit gegenüber der Realität. Man spürt eine Art offensichtliche Perversion. Der zweite Teil ist auf den ersten Blick anspruchsvoller und ruhiger, mit echten Gesprächen. Gleichzeitig zeigt er eine Realität, in der Intimität nicht existiert. Was bedeutet Intimität in Kriegszeiten, während Gaza bombardiert wird? Die ehemaligen Liebenden mögen sich zwar an ihre Jugend und ihre Gefühle erinnern, aber sie sind völlig von der aktuellen Situation eingenommen. Sich zu küssen, während Gaza im Hintergrund brennt, bedeutet, sowohl Israeli als auch Weltbürger zu sein. Meiner Meinung nach ist der zweite Teil nicht gesünder als der erste. Er bietet lediglich eine ganz andere Darstellung der Entmenschlichung der Welt, sowohl in seiner Form als auch in seinen weiblichen Figuren. Liebeserklärungen und Küsse werden lächerlich, vernichten sich selbst und pervertieren sich angesichts des Grauens des Krieges. Die Stadt zu verlassen und sich in die Wildnis zu begeben, ist kein Ausweg. Es ist das bekannte Thema eines Künstlers auf der Suche, der sich auf eine existenzielle Reise begibt, um Inspiration zu finden und sein Werk in die Welt zu bringen. Hier ist diese Inspiration die schlimmste, die man sich vorstellen kann.

 
Wer sind die Darsteller*innen, die Y. und Yasmine spielen?

Ariel Bronz war vor dieser Filmrolle nicht wirklich Schauspieler. Er ist ein Gestalter sehr radikaler und provokativer Avantgarde-Shows. Er ist absolut großartig. Als ich ihn traf, gestand er mir, dass er schon immer davon geträumt hatte, in einem Mainstream-Film oder einer Fernsehserie mitzuspielen. Sein einfacher Wunsch, „normal“ zu sein, hat mich sehr bewegt. In Israel stirbt das Kino aus, und Schauspieler*innen sind oft gezwungen, an dummen Projekten mitzuwirken, nur um über die Runden zu kommen. Alles Alternative ist zu einer winzigen Nische
geworden. Y. kann so viel schleimen, wie er will, ich bezweifle, dass er sein Ziel erreichen wird. Dafür ist er zu seltsam. Er ist ein Opfer des Fluchs der Einzigartigkeit. Efrat Dor ist das genaue Gegenteil von Ariel Bronz. Sie ist professionelle Schauspielerin und spielte in einer erfolgreichen Fernsehserie in Israel mit. Als sie jünger war, träumte sie davon, in Amerika groß herauszukommen. Sie verbrachte elf Jahre in Los Angeles, aber ihre Pläne für eine internationale Karriere gingen nie in Erfüllung. Wenn man Ariel und Efrat zusammen sieht, erkennt man sehr schnell ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die auch im Film vorhanden sind. Naama Preis, die Lea spielt, wäre auch eine perfekte Yasmine gewesen, aber ich war mehr daran interessiert, sie in der Rolle von Y.s ehemaliger Geliebten zu sehen, einer Frau der Worte, nicht des Körpers. Sie ist die einzige Figur im Film, die wirklich spricht. 


Wie war es, in einem Land zu drehen, das sich im Krieg befindet?

Zum ersten Mal in meinem Leben weigerten sich zahlreiche Techniker*innen, an dem Film mitzuarbeiten, aufgrund seines Themas und teilweise auch wegen mir. Jeden Tag verließ ein weiteres Crewmitglied das Set. Ich hatte einige sehr lebhafte Diskussionen mit Leuten, die mir erklärten, warum sie nicht an dem Projekt teilnehmen wollten. Wir mussten einen serbischen Maskenbildner engagieren, weil wir feststellten, dass alle Maskenbildner*innen in Israel sehr patriotisch sind. Mir wurde klar, dass ich mich nicht verändert hatte, sondern dass sich die Realität in diesem Land eine andere geworden war. 

Als wir auf Zypern drehten, brach der Krieg mit dem Libanon aus. Wir mussten den Dreh abbrechen. Die Dreharbeiten mitten im Krieg
stellten das Produktionsteam vor zahlreiche Probleme und erhöhten die Kosten. Als wir in Sichtweite von Gaza drehten, wo eine riesige schwarze Rauchwolke aufstieg, war der  Soundtrack voller echter Explosionen. Wenn man einen Kuss auf einem Hügel mit Blick auf Gaza filmt, fragt man sich, wie viele Menschen bis zum Ende der Dreharbeiten ums Leben gekommen sein werden. Der Vater eines Crewmitglieds war eine Geisel, die von der Hamas ermordet wurde. Ein anderes Crewmitglied erzählte uns, dass sein Sohn als Soldat Gaza bombardierte.

Als wir die Szene auf dem berühmten „Hill of Love“ drehten, an einem Tag, an dem es viele Explosionen gab, gingen wir mit einer sehr kleinen Crew auf Gonzo-Tour, weil wir uns in einer verbotenen Militärzone befanden. Die Armee griff ein und forderte uns auf, die Dreharbeiten einzustellen. Glücklicherweise trafen wir auf einen entgegenkommenden und interessierten jungen Offizier, der mit der Crew ein Gespräch über Kino begann und uns die Erlaubnis gab, sechs Stunden lang zu drehen.Efrat Dor ist das genaue Gegenteil von Ariel Bronz. Sie ist professionelle Schauspielerin und spielte in einer erfolgreichen Fernsehserie in Israel mit. Als sie jünger war, träumte sie davon, in Amerika groß herauszukommen. Sie verbrachte elf Jahre in Los Angeles, aber ihre Pläne für eine internationale Karriere gingen nie in Erfüllung. Wenn man Ariel und Efrat zusammen sieht, erkennt man sehr schnell ihre Gemeinsamkeiten und
Unterschiede, die auch im Film vorhanden sind.

Naama Preis, die Lea spielt, wäre auch eine perfekte Yasmine gewesen, aber ich war mehr daran interessiert, sie in der Rolle von Y.s ehemaliger Geliebten zu sehen, einer Frau der Worte, nicht des Körpers. Sie ist die einzige Figur im Film, die wirklich spricht.

Foto:
©Verleih


Info:
YES
Ein Film von Nadav Lapid
Deutschland/Frankreich/Israel/Zypern 2025, 150 Min., FSK 16
hebräische OmU-Fassung und deutsche Synchronfassung
Ab 13. November im Kino

Stab
Buch & Regie: Nadav Lapid
Kamera: Shai Goldman

Besetztung
Y.: Ariel Bronz
Yasmine: Efrat Dor
Leah: Naama Preis
Der Milliardär: Alexey Serebryakov
Avinoam: Sharon Alexander
Sekretär des Milliardärs: Pablo Pillaud Vivien
Reiche Frau: Idit Teperson
Singende Yacht-Stewardess: Shira Shaish

Das Gespräch wurde am 3. Mai 2025 geführt
Abdruck aus dem Presseheft