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Kategorie: Film & Fernsehen
auf dem BodenSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 26. November 2025, Teil 9

Redaktion

Paris (Weltexpresso) - Wie kam es, dass Ihnen das Projekt MIT LIEBE UND CHANSONS vorgeschlagen wurde?

Ich war auf dem Film Festival L’Alpe d’Huez als die Produzenten von Gaumont mich einluden, den Roman zu lesen. Ich las ihn gleich zweimal und begann noch während des Lesens mit der Arbeit an einem Drehbuch. Roland Perez spricht in dem Buch über das sehr ernste Thema seiner Behinderung, aber dank der unglaublichen Persönlichkeit seiner Mutter Esther ist die Erzählung von Menschlichkeit und Humor durchdrungen. Das ist die Art von Geschichte, die ich liebe. Die Geschichte ist einzigartig, da sie in einer sephardisch-jüdischen Familie im Paris
der 1960er und 2010er Jahre spielt und trotzdem ist sie universell lesbar. Jeder kann sich auf irgendeine Weise in dieser Mutter-Sohn-Beziehung wiederfinden. Der Roman ist gleichzeitig intim und groß.



Sie sprechen von der ersten Begegnung mit Roland als „großem Moment“.

Roland ist ein außergewöhnlicher Mensch. Er zeigte sich von Beginn an sehr großzügig und ich wollte sofort mit ihm über alles reden. Nicht nur, dass ich einen witzigen, gut  geschriebenen Roman als Grundlage hatte, jetzt konnte ich auch noch jederzeit den Autor befragen, der zufällig auch Protagonist der Geschichte ist. Roland überschüttete
mich mit Anekdoten und Details, er war eine großartige Unterstützung.



Sie haben das Drehbuch sehr schnell geschrieben, richtig?

Ich kam im Februar nach Kanada zurück und legte alle anderen Projekte zur Seite. Auch wenn es sehr anstrengend war, kam ich schnell voran. Die erste Fassung reichte ich schon im Mai ein, das normalerweise übliche Exposé haben wir komplett übersprungen. Ich wollte einfach, dass es schnell geht, da ich mich auf den ersten Blick in den Stoff verliebt hatte. Alle am Film beteiligten Kollegen waren mit Leidenschaft dabei – als würde Esther über uns wachen. 



Die erste Hälfte des Films ist eine Rückblende. Roland schreibt an seinem Buch und wir hören ihm zu, wie er von seiner Kindheit spricht. Hatte er einen Einfluss auf das Drehbuch?

Es ist immer eine Herausforderung, einen Roman zu verfilmen und auf 100 Minuten zu kondensieren. Insbesondere dann, wenn im Buch ein Zeitraum von 50 Jahren erzählt wird. Aber ich mochte diese Herausforderung. Es geht darum, Schlüsselmomente zu finden, damit der Zuschauer die Geschichte versteht, und gleichzeitig zu vermeiden, in ein episodenhaftes Erzählen abzudriften. Man muss das Publikum zum aktiven Zusehen bringen und diese Arbeit gefällt mir sehr. Ich arbeite im Film viel mit Spiegelbildern und Umkehrungen. In der ersten Hälfte kämpft eine Mutter darum, ihren Sohn von einer Behinderung zu befreien, in der zweiten ist es ein Sohn, der sich darum bemüht, sich von seiner Mutter zu lösen. Ich wollte von einer
Mutter erzählen, die ihr Leben ihren Kindern widmet und gleichzeitig eine Geschichte der Emanzipation. Ich wollte zeigen, wie schwer es ist, sich von einer solchen Mutter zu lösen und wie stark die Schuldgefühle sein können. Wie kann man jemanden verlassen, der einem alles gegeben hat. Darum kreist das gesamte Drehbuch.



Esther ist eine unwiderstehliche, aber auch sehr hartnäckige Mutter. Diese Figur war aus komödiantischer Hinsicht sicher großartig, oder?

Esther hat eine entwaffnende Vitalität. Sie ist voller Menschlichkeit und Liebe zu ihren Kindern, aber sie hat auch keinen Filter. Sie manipuliert jeden, ganz wie sie möchte. Das grenzt sehr oft an Unvernunft. Sie hat sehr viele gute und schlechte Eigenschaften und vereint viele Gegensätze in sich. Sie ist furchtlos und lebt das Leben in vollen Zügen. Für die komödiantische Seite des Films ist sie in ihrer Komplexität der entscheidende Faktor – sowohl beim Schreiben des Drehbuchs als auch in der Darstellung, da sie extrem charismatisch ist. Wenn Esther einen Raum betritt, wenden sich ihr alle Blicke zu. Sie ist ihre eigene, vitale Überhöhung, aber es gibt auch Grenzen, Dinge, die sie nie tun würde. Ich habe stets versucht, die wahre Esther nicht zu verraten.



Bleibt das Drehbuch der Vorlage immer treu?

Wir mussten natürlich schwierige Entscheidungen treffen und Passagen weglassen, um die Geschichte zu erzählen, die Idee zu kondensieren und auch den Rhythmus eines Kinofilms zu wahren. Aber da ich den Roman sehr mochte und auch den Autor, wollte ich auf keinen Fall die Vorlage verleugnen. Ich glaube, der Film spricht dieselbe Sprache wie das Buch. Trotzdem hatte ich natürlich Angst, Roland den Film zu zeigen. Es ist sein Leben, um das es geht, und jeder hat nun mal seinen eigenen Blickwinkel. 


Wie würden sie MIT LIEBE UND CHANSONS bezeichnen? Komödie? Märchen? Heldenreise?

Ja, das passt alles. Es ist auch noch ein intimes Drama. Eine dramatische Komödie mit Emotionen, Tiefgang und Humor. Der Film spricht dank Esthers Extravaganz sehr leichtfüßig über Behinderungen.


Was waren die Inspirationsquellen aus filmischer Sicht?

Ich bevorzuge Komödien, die einen Sinn haben. Ich mag es, wenn dramatische Geschichten immer spannender werden und dann mit einem Lachen gelöst werden. Daher bewundere ich Billy Wilders Filme. Es sind elegante Komödien. Die Darsteller sind bei ihm stets gut gelaunt und lustig, aber man glaubt ihnen ihr Leid. Das Lachen ist Kontrapunkt der dramatischen Spannung. Man braucht Darsteller, die das verstehen und in der Lage sind, mühelos zwischen Drama und Komödie zu wechseln.



Wie haben Sie die Schauspieler ausgewählt?

Leïla Bekhti war eine selbstverständliche Wahl. Esther musste stark, charismatisch, gütig und abwechselnd komisch und dramatisch sein. Darüber hinaus mussten wir die Figur im Laufe des Films 50 Jahre altern lassen, Leïla war also perfekt. Alle waren mit ihr einverstanden. 


Und Jonathan Cohen als Roland?

Das war eine größere Herausforderung, denn am Anfang wussten wir nicht, wie Jonathan glaubhaft den Sohn von Leïla spielen soll. Er ist älter als sie. Aber trotz dieser Chronologie hat es funktioniert. Was Jonathan dem Film bietet, ist erstaunlich. Er bringt diese Ernsthaftigkeit mit und kombiniert das mit Humor, vor allem in seinem energischen Tonfall. Ich habe 
Schauspieler gewählt, die eine gewisse Ambivalenz verkörpern. Es ist ein Drahtseilakt, der stets so wirkt als würde er kippen. Zum Beispiel in der Krankenhausszene, in der Roland seine Mutter im Krankenhaus besucht und er trotz der Traurigkeit des Moments dieses leichte Lächeln auf den Lippen hat, das den Zuschauer aufatmen lässt. Auch die anderen Darsteller,
allen voran Joséphine Japy und Lionel Dray besitzen dieses Geschick und diese Tiefe. Ebenso natürlich Jeanne Balibar, Anne Le Ny und die vielen jungen Schauspieler, mit denen ich das Glück hatte zu arbeiten.



Kennen sie die Chansons von Sylvie Vartan?

Ich lebe in Québec, bin aber in New Brunswick geboren, habe also eine doppelte kulturelle Prägung. Mein Vater ist englischsprachig und ich bin mit amerikanischem Fernsehen aufgewachsen. Ich kannte ein paar Lieder von Sylvie, aber nicht das Ausmaß ihrer außergewöhnlichen Karriere und ihrer Ausstrahlung. Sie hatte ein unglaubliches Leben. Zu erfahren, wie eng die Verbindung zwischen einem Künstler und einem Fan sein kann, hat mich sehr berührt. Man ist sich nicht immer bewusst, welch positiven Einfluss man als Künstler mit seinen Geschichten, Büchern, Theaterstücken und Liedern auf das Publikum hat und wie sehr man ihr Denken und ihren Charakter prägen kann. Das wird meiner Meinung nach in Zukunft noch relevanter, da die Menschen immer mehr Medien konsumieren.



Sie hatten das Glück, mit Sylvie Vartan für den Film zusammenzuarbeiten. Wie war das?

Sylvie Vartan spielt sich selbst und ich hatte das Gefühl, dass sie diese Geschichte sehr gerne erzählt hat. Sie hat eine enge Verbindung zu Roland, er bedeutet ihr viel. Am Set war sie engagiert und sehr angenehm. Es ist natürlich immer beeindruckend, mit einem großen Star zu arbeiten. 



Wie war die Atmosphäre am Set?

Mir war es wichtig, den Geist des Romans am Set auferstehen zu lassen. Ich wollte, dass es ein angenehmes und glückliches Zusammenarbeiten wird. Ich umgab mich mit talentierten Leuten und das ist immer das Wichtigste. Jeder war konzentriert, denn für eine Komödie ist es wichtig, fleißig und aufmerksam zu sein. Mir schien es, als wäre jeder mit Leidenschaft dabei. Alle hatten Lust darauf, diese Geschichte zu erzählen.



Gibt es spezifische Erinnerungen vom Dreh, die Sie teilen können?

Ich erinnere mich an den Tag, als wir Rolands und Litzies Hochzeitsszene gedreht haben. Von den 100 Statisten waren mehr als 80 Freunde und Verwandte von Roland. Viele waren bei seiner echten Hochzeit auch anwesend. Joséphine Japys Kleid war mit dem der wahren Litzie identisch. Rolands echter Sohn trägt Litzies Stuhl während des Hora-Tanzes, eine tolle Geste. Alle haben gesungen, gelacht und waren trotz des langen Arbeitstages ausgelassen.



Verfilmen Sie gerne Familienbeziehungen?

Während ich eine Geschichte schreibe, versuche ich nicht darüber nachzudenken, warum ich das mache. Trotzdem lande ich jedes Mal beim Thema Familie. Es geht dabei zwar nicht um meine eigene, aber man kann natürlich mithilfe der Fiktion Dinge sagen, die man sich sonst nicht trauen würde. Ich habe das Gefühl, dass man auf diese Weise der eigenen Wahrheit immer näher rückt. Ich würde keinen Film über meine eigene Mutter machen, da ihr Leben weniger spektakulär ist als das von Esther Perez, aber ich erkenne sie trotzdem in ihr wieder. Mütter sind in den prägendsten Momenten unseres Lebens da.



Was würden sie den Zuschauern gern mit auf den Weg geben?

MIT LIEBE UND CHANSONS erzählt nicht, dass das Leben einfach ist, aber dass es sich lohnt, es gut zu leben. Ich vertraue eher auf das Menschliche als auf das Göttliche. Für mich geht das Göttliche immer vom Menschlichen aus, vom Guten, das man tut und den Beziehungen, die man aufbaut. Das Zusammenleben scheint heutzutage manchmal schwer, aber ich glaube daran, dass man sich anstrengen muss, damit es funktioniert. Es gibt immer Wege, das Leben schön zu gestalten und Solidarität zu schaffen. Das ist nicht immer leicht. Ich denke, die Kunst sollte uns an diese Tugenden des Zusammenlebens erinnern. Es braucht mehr solcher Geschichten und Charaktere, die sich ihren Herausforderungen mit Leidenschaft und Entschlossenheit stellen, aber auch mit Leichtigkeit und Eleganz.



Sie glauben also nicht an Wunder?

Ich glaube, Rolands Leben ist ein einziges Wunder.

Foto:
©Verleih

Info:

Komödie /
Frankreich 2025 /
103 Minuten

Besetzung
Esther Perez.   Leïla Bekhti
Roland Perez    Jonathan Cohen
Litzie Gozlan.     Joséphine Japy
Sylvie Vartan.     als sie selbst
Madame Fleury.   Jeanne Balibar
Maklouf Perez.       Lionel Dray
Roland Perez (5 Jahre alt).      Naïm Naji
Jacques Perez (12 Jahre alt).   Milo Machado-Graner
Madame Vergepoche.     Anne Le Ny
Monsieur Foenkinos.      David Ayala

Stab
Regie
Ken Scott
Drehbuch
Ken Scott
Autor der Romanvorlage
Roland Perez

Abdruck aus dem Presseheft