Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 26. November 2025, Teil 14Redaktion
Berlin (Weltexpresso) - Was hat Sie dazu inspiriert, diese Geschichte zu erzählen?
Es begann mit einem Foto der Kleinstadt Sangerhausen, auf dem die Halde zu sehen ist, ein künstlicher Berg, der sich hinter der Stadt ebenso geheimnisvoll erhebt wie der Fuji in Hokusais Holzschnitten oder der Mont Saint-Victoire in Cézannes Gemälden.
Ich reiste für ein paar Tage dorthin und war fasziniert von den vielen eigenartigen Orten und historischen Schichten, denen ich begegnete. Es war wie eine Verdichtung der deutschen Vergangenheit und Gegenwart, einschließlich ihrer dunkelsten Facetten, und gleichzeitig voller überraschender poetischer Details.
Es gibt verschiedene Welten und Realitäten, die aufeinanderprallen, alt und modern, Arbeiter- und Mittelschicht, städtisch und ländlich usw. Was ist ihr gemeinsamer Nenner? Gibt es ein verbindendes Element?
Ich mag es, Schnittpunkte zwischen Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen zu erforschen. In diesem Fall nicht nur aus verschiedenen Ländern und sozialen Schichten, sondern auch aus verschiedenen Jahrhunderten. Was die Figuren auf individueller Ebene verbindet, ist vielleicht eine Art Prekarität, Einsamkeit und eine vage Sehnsucht nach einem anderen Leben. Aber im Film wird dies aus einem breiteren historischen und politischen Blickwinkel reflektiert.
Mit welchen Konflikten sind die Protagonist*innen konfrontiert?
Die Geschichte dreht sich um zwei Frauen, die beide im Heimlichen mit ihrem Leben unzufrieden sind. Ursulas Existenz wird durch zwei schlecht bezahlte, sehr anstrengende Jobs und die Kleingeistigkeit ihres Umfelds erstickt. Neda lebt im Exil und versucht mühsam, die Visabestimmungen, die Absurditäten des Selbstunternehmertums im digitalen Zeitalter und die erbärmlichen Überreste einer begrabenen künstlerischen Ambition unter einen Hut zu bringen. Ich denke dabei weniger an Konflikte im dramaturgischen Sinne, sondern eher an den Konflikt, der zwischen dem Leben, das sie führen, und dem Leben, das sie sich vielleicht vorgestellt haben, liegt.
Inwiefern spiegeln ihre individuellen Herausforderungen die Gesellschaft im Allgemeinen wider?
Die Fakten, die unsere heutige Zeit bestimmen, sind alle im Film präsent: der neoliberale Kapitalismus mit seinem wirtschaftlichen Druck und seinen schlechten Arbeitsbedingungen, seinen psychologischen und sozialen Auswirkungen; der Aufstieg von Nationalismus und Rassismus; Krieg und Exil. Das ist es, was einem erfüllten Leben im Wege steht, sowohl auf individueller als auch auf globaler Ebene. Es sind äußere Hindernisse, aber sie haben auch unser Inneres erobert. Wenn meine Protagonist*innen nach Lösungen suchen, versuchen sie diese daher an eher imaginären Orten zu finden. Was neue Perspektiven und sogar Hoffnung eröffnet, ist die Begegnung mit anderen, die Möglichkeit, neue, wenn auch fragile Gemeinschaften zu schaffen.
Was bedeutet der Verweis auf den berühmten deutschen Dichter Novalis?
Novalis ist eine Schlüsselfigur der frühen deutschen Romantik, der Erfinder der „blauen Blume“, einem Symbol für die Sehnsucht nach einem unerreichbaren Anderswo. Da er in einem Schloss in der Nähe von Sangerhausen geboren wurde, musste er einfach in dem Film vorkommen. Novalis war auch Geologe, und Steine spielen in dem Film eine große Rolle. Er schrieb in einer sehr eklektischen und fragmentarischen Form, die mich sehr anspricht. Aber ich zog es vor, ihn aus einem schrägen Blickwinkel zu betrachten und mich nicht auf die Sehnsucht von Novalis, dem elitären jungen Aristokraten, zu konzentrieren, sondern stellte mir seine Magd vor, die beim Leeren des Nachttopfs des Dichters von der Französischen Revolution träumt.
Auffällig an dem Film sind die visuellen und ästhetischen Entscheidungen. Wie sind Sie auf das Konzept gekommen?
Ich bin besessen von der Frage nach der Form im Kino, davon, wie sie unsere Sinne schärfen kann, die durch so viele stereotype Bilder abgestumpft sind. Zusammen mit Kameramann Faraz Fesharaki haben wir versucht, überraschende Lösungen für das Drehbuch zu finden, uns aber auch von dem überraschen zu lassen, was wir während der Dreharbeiten entdeckten. Daher ist der Film eine Mischung aus sorgfältig geplanten visuellen Choreografien und zufälligen Bildern, die wir gedreht haben, ohne zu wissen, wo sie im Schnitt landen würden. Ein wichtiges formales Element, das wir erforschen wollten, war die geisterhafte, sehnsüchtige Bewegung des Zooms, ein weiteres die poetische Leichtigkeit der Kamerafahrt. Wir haben auch einen Blick zurück in die Geschichte des Kinos geworfen: Die frühen Filme von Kira Muratova haben uns zum Beispiel sehr beeinflusst.
Foto:
©Verleih
Info:
SEHNSUCHT IN SANGERHAUSEN
Julian Radlmaier
Deutschland 2025,
90 Min.,
deutsche Fassung
Ab 13. November im Kino
Stab
Buch, Regie, Montage: Julian Radlmaier
Kamera: Faraz Fesharaki
Besetzung
Ursula: Clara Schwinning
Neda: Maral Keshavarz
Lotte: Paula Schindler
Zulima: Henriette Confurius
Marjam: Ghazal Shojaei
Sung-Nam: Kyung-Taek Lie
Buk: Buksori Lie
Bratschist Paul: Jérémie Galiana
Cellistin Daniella: Marlene Hauser
Grete: Luise von Stein
Arnulf: Andreas Döhler
Robert: Leonard Scheicher
Norbert: Jakob Schmidt
Frau Markgraf: Valerie Neuenfels
Abdruck aus dem Presseheft